Marissa Blumenthal 02 - Trauma
interessieren Sie sich dafür?« fragte er.
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Marissa.
»Ich habe Zeit«, antwortete Lester.
»Also«, begann Marissa, »Dr. Wilson und ich haben beide das gleiche Problem der Unfruchtbarkeit wie die Frauen, die in diesem Artikel beschrieben werden: Eileiterblockierung durch Tuberkulose.« Dann schilderte sie ihm ihre frühere Tätigkeit beim CDC und ihre Ausbildung in der Lehre von den Epidemien. »Als wir entdeckten, daß das Problem internationales Ausmaß angenommen hat, beschlossen wir zu forschen. Der Artikel wurde mir vom CDC zugesandt. Wir riefen die Klinik hier an, konnten aber den Autor nicht erreichen.«
»Was hätten Sie ihn denn gefragt, wenn es Ihnen geglückt wäre?« fragte Lester.
»Vor allem zwei Dinge«, sagte Marissa. »Erstens wollten wir von ihm wissen, ob er in den berichteten Fällen Untersuchungen im Hinblick auf epidemischen Ursprung angestellt hat. Zweitens wollten wir wissen, ob ihm neue Fälle bekannt geworden sind. In Boston kennen wir neben unseren noch drei Fälle.«
»Sie wissen doch, daß Unfruchtbarkeit allgemein im Ansteigen begriffen ist?« fragte Lester. »Unfruchtbarkeit aus den verschiedensten Ursachen, nicht allein durch Eileiterblockierung.«
»Das ist uns bekannt«, sagte Marissa. »Aber auch das Ansteigen der Zahl von Eileiterblockierungen deutet normalerweise auf untypische Fälle von Entzündung der Gebärmutter hin. Es ist ja keine typische Infektion, und schon gar nicht in der seltenen Verbindung mit Tuberkulose. Diese Fälle werfen eine Reihe von epidemiologischen Fragen auf, die auf eine Antwort warten. Sie können sogar eine neuartige, schwere klinische Erkrankung bedeuten.«
»Es tut mir leid, daß Sie eine so lange Reise auf sich genommen haben, um mehr über diesen Artikel zu erfahren. Leider ist es so, daß der Autor sich die angeführten Daten vollständig aus den Fingern
gesaugt hat. Das Ganze ist reine Erfindung. Kein wahres Wörtchen ist daran. Die Patientinnen gab es gar nicht. Na ja, vielleicht waren da ein, zwei Fälle. Der Rest ist freischwebende Phantasie. Wenn Sie mich telefonisch erreicht hätten, dann hätte ich Ihnen das gleich gesagt.«
»O nein«, stöhnte Marissa. Daß der Artikel eine Lüge sein könnte, war ihr nie gekommen.
»Wo ist der Verfasser jetzt?« fragte Wendy.
»Das kann ich Ihnen nicht sagen«, antwortete Lester. »Wir haben ihn jedenfalls sofort entlassen. Seitdem ist er, wie ich gehört habe, dem Rauschgift verfallen. Was weiter aus ihm geworden ist, weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, wo er sich gegenwärtig aufhält, ich weiß nur, daß er nicht mehr als Pathologe praktiziert.«
»Was raten Sie uns, wie wir nach ihm suchen könnten?« fragte Marissa. »Ich möchte immer noch gern mit ihm sprechen, vor allem, weil ich ja die gleiche Infektion hatte, die er beschreibt. Wenn er schon Daten frei erfunden hat, warum dann auf einem so ungewöhnlichen Gebiet? Was kann er sich davon erhofft haben? Für mich ergibt das keinen Sinn.«
»Die Menschen begehen aus den sonderbarsten Motiven die seltsamste Dinge«, sagte Lester und erhob sich. »Hoffentlich haben Sie nicht allein wegen dieses Artikels den weiten Weg nach Australien gemacht.«
»Wir haben außerdem gedacht, zum Große Barriereriff zu fliegen«, sagte Wendy. »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.«
»Da kann ich nur hoffen, daß sich das Vergnügen als ergiebiger erweist als die Arbeit«, sagte Lester. »Und jetzt ruft auch mich wieder die Arbeit. Wenn Sie mich also entschuldigen wollen…«
Wenige Minuten später standen Marissa und Wendy wieder vor der Rezeption im Foyer. Die Empfangsdame telefonierte für sie nach einem Taxi.
»Das war ein ziemlich abruptes Ende unseres Gesprächs«, sagte Wendy. »Eben versichert er uns noch, er habe Zeit, und in der nächsten Minute scheucht er uns aus dem Zimmer.«
»Ich weiß nicht, was ich von all dem halten soll«, sagte Marissa.
»Aber eins weiß ich sicher: ich möchte diesen Tristan Williams finden und sei es nur, um ihm den Hals umzudrehen. Diese Chuzpe muß man sich mal vorstellen: Nur um einen Artikel schreiben zu können, erfindet der Mann seine Patientinnen selber!«
Charles Lester war nicht zu seiner Arbeit zurückgekehrt. Der Besuch Marissas und Wendys hatte ihn verstört. Es war jetzt über ein Jahr nach der letzten Anfrage wegen dieses ärgerlichen WilliamsArtikels vergangen. Damals hatte er gehofft, es würde die letzte sein.
»Verdammt!« sagte er laut und
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