Markttreiben
Frau, die Bier aus der Flasche
trank.
»Frau Deutz, es tut mir leid. Dass Sie eine Freundin verloren
haben.« Das klang lahm, er hätte ihr gerne gesagt, wie leid es ihm tat. Wie
leid es ihm auch tat, dass er Miri verloren hatte, die er doch gerade erst
gefunden hatte. Gerhard fühlte sich grauenhaft. Was würde Bettina Deutz gedacht
haben? Dass er Miri so zugesetzt hatte? Dass er sie in den Tod getrieben hatte?
»Sind Sie gekommen, um mir Ihr Beileid auszusprechen?«
»Nein, ich …«
»Was, Sie? Sie waren auf einer kleinen Radtour und sind zufällig
hier vorbeigekommen? Ich glaube, wir sind beide aus dem ›Zufällig‹-Alter raus.
Was wollen Sie, Herr Weinzirl?«
»Ich wollte … Ihnen sagen … ach Scheiße.«
Ein bitteres Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Ja, Scheiße, genau!
Miri ist tot. ›Welches der Worte du sprichst – du dankst dem Verderben.‹«
»Was?«
»Sie hielt ihm das Buch hin. »Paul Celan. Es gibt Zeiten im Leben,
da kann man nur Paul Celan lesen. Miri mochte ihn auch, da waren wir zwei
Outsider. Selbst meine Deutschlehrerkollegen konnten mit Celan nichts
anfangen.«
Ein Satz kam von irgendwoher. »Der Tod ist ein Meister aus
Deutschland.« Natürlich, Deutschunterricht. Irgendwo war der Satz
abgespeichert, irgendwo da, wo das Schulwissen gelagert war. Weit weg, und doch
bedurfte es nur eines Impulses. Paul Celan, »Todesfuge«. Er war kein Leser,
schon gar nicht von Lyrik, aber heute hätte er gewünscht, seine Machtlosigkeit
in Worte fassen zu können. Er, der sonst immer am liebsten schwieg.
»Hat sie es getan, Bettina? Hat sie sich umgebracht? Glauben Sie
das? Sie kannten sie doch so gut?« Das war die Frage, die er die ganze Zeit
stellen wollte.
»Ich weiß es nicht. Nein, ich kann das nicht glauben. Sie hat vieles
verborgen, auch um sich der Welt nicht in schlechter Verfassung zuzumuten.
Getrauert hat sie zu Hause, draußen war sie fröhlich und gewinnend.«
Er hatte sie gesehen. Sie war eine verdammt gute Schauspielerin
gewesen. Miri Camouflage, Miri hinter der Maske.
»Ja, ich weiß.«
»Was denken Sie denn? Warum sind Sie hier? Ihr Fall ist doch
abgeschlossen, oder?«
»Offiziell ja.«
»Und inoffiziell?«
»Ich glaube nicht, dass sie sich umgebracht hat.«
»Warum?«
Er starrte in den Garten. Ja, warum? Weil sie so lebendig gewesen
war. Weil er das Gefühl gehabt hatte, das etwas hätte werden können. Gerade er,
der jede Beziehung zu einer Frau bisher in den Graben gefahren hatte.
»Gerhard, ich sag jetzt mal ›Gerhard‹, glaubst du, sie hat sich
nicht umgebracht, weil du mit ihr geschlafen hast? Weil du so toll warst, dass
sich eine Frau beileibe danach nicht umbringt?« Sie zuckte selber ein wenig
weg, so als hätte man sich verbrannt, und schickte ein »Entschuldigung, das war
nicht nötig« hinterher.
Gerhard starrte sie an.
»Sie hat es mir erzählt. Sie war richtig gut drauf. Sie hat gesagt:
›Endlich mal ein Mann, der nicht redet beim Sex und irgendwelchen
pornographischen Unsinn schwafelt.‹«
Gerhard schluckte und versuchte dann, seine Stimme normal klingen zu
lassen. »Wann hat sie das erzählt? Auf eurer Wanderung?«
»Ja, und sie wollte am Abend noch was erledigen und sagte, dass sie
dich dann die nächsten Tage mal zum Essen einladen wolle.«
Das Essen würde ausgefallen, weil Miri tot war. Wieder brachte er
seine Stimme unter Kontrolle. »Ich glaube nicht, dass eine Nacht mit mir
ausschlaggebend wäre, um eine Lebensentscheidung zu korrigieren. So eingebildet
bin ich nicht. Aber ich wusste von Anfang an, dass ich etwas übersehe. Dass ich
Hinweise nicht richtig aufgenommen habe. Und ja, ich will es auch nicht
glauben, dass sie sich umgebracht hat.«
»Und nun?«, sagte Bettina erneut.
»Ich weiß es nicht genau, aber kann ich dich anrufen?«
»Sicher, ich steh im Telefonbuch. Ach so, du bist Polizist, Nummern
sind wahrscheinlich eine leichte Übung.«
Sie war aufgestanden. Gerhard auch. Sie standen sich gegenüber, und
auf einmal gab sie ihm zum Abschied zwei angedeutete Küsse auf die Wange.
Dieses Bussi-Ritual hasste Gerhard im Bekanntenkreis. Heute war es okay. Sie
hob die Hand, als er wegradelte und sich nochmals umsah. Gerhard gelangte auf
einen Lechweg und landete in Kinsau. Er blieb auf dem Wirtschaftsweg, durchfuhr
Hohenfurch, und in Schongau wusste er auf einmal, was er zu tun hatte.
Das Rad stellte er vor der Eisdiele ab. Die Tür von Leo Langs
Wohnung war leicht zu öffnen. Sie waren drin gewesen nach dem Mord, sie
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