Marlene Suson 3
weil er am nächsten Morgen früh nach London aufbrechen wollte, hatten sie versucht, sich die Wartezeit mit einer Partie Whist zu verkürzen. Doch keiner der vier brachte es fertig, sich auch nur halbwegs auf das Spiel zu konzentrieren.
Wo bleiben Morgan und Stephen nur?
Der Himmel schien ein Einsehen zu haben und Danielas stumme Frage zu beantworten, denn in diesem Augenblick hörte man durch die offenen Fenster den Hufschlag eines heranga- loppierenden Pferdes. Daniela raffte ihre Röcke und stürzte aus dem Zimmer, gefolgt von Megan und Rachel. Sie erreichten die große Marmorhalle gerade, als Stephen zur Haustür hereinkam.
„Wo ist Morgan?“ fragte Daniela.
Der Blick, mit dem Stephen sie bedachte, war so feindselig, daß sie unwillkürlich zurückzuckte. Was immer auch geschehen war, er gab ganz unverkennbar ihr die Schuld daran.
„Was ist passiert? Ist ... ist Morgan tot?“ Daniela brachte die Worte kaum heraus, denn ihre Kehle war wie zugeschnürt. Wenn Morgan tot war, dann war es tatsächlich ihre Schuld. Dann hatte ihre Rettung ihn das Leben gekostet.
Sie konnte sich eine Welt – und ihr eigenes Leben – ohne Mor- gan gar nicht mehr vorstellen. Öde und leer würde die Zukunft sein.
„Nein, noch nicht, aber das ist nicht Ihr Verdienst“, sagte Stephen schroff.
„Liegt er im Sterben?“ rief Daniela verzweifelt. „Ist er schwer verwundet? Nun reden Sie doch!“
Stephens Gesicht war hart wie Granit. „Soweit ich weiß, ist er nicht verwundet ... abgesehen vielleicht von einem gebrochenen Herzen.“
„Wo ist er dann?“ fragte Jerome. „Was ist vorgefallen?“
„Dank Lady Daniela sitzt Morgan im Gefängnis von Tappen- ham. Ihm wird zur Last gelegt, Gentleman Jack zu sein.“
„Was sagen Sie da?“ fragte Daniela konsterniert. „Ich verstehe das alles nicht.“
In Stephens Augen blitzte schiere Mordlust. „Sie wissen sehr gut, weshalb Morgan hinter Gittern sitzt, denn Sie haben es auf Ihren Eid genommen, daß Morgan der Straßenräuber Gentleman Jack ist.“
Daniela war sicher, Stephen nicht richtig verstanden zu ha- ben, doch Rachels entsetzter Gesichtsausdruck belehrte sie ei- nes Besseren. „Nie im Leben habe ich so etwas getan!“ rief sie völlig verstört.
Die Verachtung in Stephens Blick traf sie zutiefst. „Nach al- lem, was Morgan für Sie getan hat, war das ein schlechter Dank, Lady Daniela. Sie haben seinen Kopf in die Schlinge gesteckt, um Ihren herauszuziehen.“
„Glaubt er das auch?“
„Er weiß es, und er wird Sie bis an sein Lebensende dafür hassen.“
„Aber ich habe niemandem, keinem Menschen auf der Welt je gesagt, daß er Gentleman Jack ist!“ Der Gedanke, daß Ste- phen oder gar Morgan sie eines solchen Verrates für fähig hielt, brachte Daniela fast um.
„Squire Polk verfügt über eine von Ihnen unterzeichnete und beeidete Erklärung, daß Morgan Gentleman Jack ist.“
„Ich habe nichts unterschrieben. Ich würde Morgan niemals verraten, niemals! Ich liebe ihn doch!“
„Jetzt, da Sie ihn zum Tode verurteilt haben, gestehen Sie Ihre Liebe zu ihm“, gab Stephen verächtlich zurück. „Wie rührend.“
Daniela fuhr herum und sah Jerome an. „Sie wissen, wie kor- rupt der Friedensrichter von Tappenham und der Konstabler sind. Bitte, bringen Sie mich zu diesen verlogenen Verbrechern. Bestehen Sie darauf, daß sie uns dieses Dokument zeigen, das
ich angeblich unterschrieben habe. Bitte, lassen Sie uns sofort aufbrechen!“
Wenn es keinen anderen Weg gab, um Morgan zu befreien, würde Daniela gestehen, selbst Gentleman Jack zu sein. Sie war fest entschlossen, Morgan zu retten, und es war ihr gleichgültig, was es sie kosten würde.
„Wir brechen morgen früh nach Tappenham auf“, sagte Jerome ruhig. „Und Mr. Yarwood nehmen wir mit.“
Daniela durfte gar nicht daran denken, daß Morgan die ganze Nacht in diesem schrecklichen Gefängnis verbringen sollte, noch dazu in der falschen Überzeugung, daß sie ihn verraten hatte. „Bitte, können wir nicht gleich jetzt hinfahren?“
„Morgen früh reicht vollkommen aus.“ Ein grimmiger Aus- druck trat in Jeromes Gesicht. „Sie werden Morgan schon nicht aufhängen, bevor wir da sind.“
Früh am nächsten Morgen warteten Daniela und Rachel nervös und unruhig vor der geschlossenen Tür zu Jeromes Bibliothek. Drinnen informierten Jerome und Stephen Mr. Yarwood gerade über Morgans Verhaftung.
Als die Tür aufging und der Agent der Krone in die Halle trat, war sein Gesicht sehr ernst.
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