Marsha Mellow
ausbrechen, während die Bahn den nächsten Halt, Tottenham Court Road, erreicht. Als die Tür aufschwingt, stürze ich an den beiden vorbei und wie eine Ratte in einem Abflussrohr die Rolltreppe hoch.
Mit wackligen Beinen gehe ich die Oxford Street entlang. Mein Kinn zuckt, und Tränen laufen mir über die Wangen. Alle machen einen kilometerweiten Bogen um mich, und von allen Seiten bekomme ich merkwürdige Blicke zugeworfen - eine Mischung aus Angst und der guten alten englischen Betretenheit: »Au weia - entweder ist sie ein Pflegefall, aus der Klapse ausgebüxt und braucht jetzt dringend ihre Medikamente, oder sie hat Zoff mit ihrem Freund.«
Warum bloß ziehe ich immer wieder den Schwanz ein? Lisa hat Recht. Beim ersten Anzeichen eines Problems flitze ich los und verstecke mich im nächsten Sandloch. Macht gefälligst Platz, ihr blöden Sträuße, jetzt kommt Amy! Aber man kann nicht ewig vor etwas davonrennen, nicht? Und heute kommt alles zusammen. Meine Mutter wird allmählich zur Mutter Theresa von Finchley, mein Vater hält sich für so unwiderstehlich wie Robbie Williams, und eine landesweite Tageszeitung möchte meinetwegen am liebsten wieder die öffentliche Steinigung einführen.
In diesem Zustand kann ich unmöglich ins Büro ... geschweige denn in dieser äußerlichen Verfassung, die ich soeben in einer Schaufensterscheibe wahrgenommen habe. Mein Gesicht ist rot und fleckig, meine Nase läuft, und ich sehe aus wie eins von diesen Blagen, die im Supermarkt regelmäßig einen Schreikrampf bekommen. Die anderen Passanten wechseln die Straßenseite, um mir aus dem Weg zu gehen - die nehmen lieber in Kauf, unter die Räder eines Doppeldeckers zu geraten, als mich versehentlich zu streifen. Aus heiterem Himmel muss ich an das Christy-Turlington-Bild von Ros auf Lewis‘ Schreibtisch denken. Ich kann unter keinen Umständen ins Büro zurück. Inzwischen habe ich das obere Ende der Dean Street erreicht. Ich frage mich, ob Mary da ist. Die hat nämlich bestimmt Papiertaschentücher.
»Das war sehr riskant von dir, hierher zu kommen«, sagt sie. »Was, wenn die Pressetante dich gesehen hätte? Nur gut, dass du ausgerechnet den Moment erwischt hast, wo sie zum ersten Mal seit Wochen pinkeln gegangen ist - die muss eine Blase wie ein Medizinball haben.«
Sie hat Recht. Ich sollte mich hier nicht blicken lassen. Trotzdem fühle ich mich hier sicher. In Marys Büro habe ich mich schon immer wohl gefühlt. Eigentlich ist mir schleierhaft, warum, zumal man dort ständig den Pizzagestank von dem Restaurant unten riecht - wahrscheinlich endet der Dunstabzug hier. Und es ist superwinzig. Für Mary allein ist schon kaum Platz, geschweige denn für den ganzen Müll, der sich nach und nach hier angesammelt hat. Hauptsächlich in Form von Pizzakartons. Und Büchern, tonnenweise. Nicht weiter verwunderlich für eine Literaturagentin, bloß dass es sich hier bei neunzig Prozent um Diätratgeber handelt. Ich stelle fest, dass ich auf einem sitze. Die Pukka-Diät von Jamie Oliver soll wohl den Riss in dem Bezug meines Stuhles verdecken.
Unser Gespräch dauert bereits eine Stunde. Unter Tränenausbrüchen ist es mir gelungen, sie über mein Dilemma zu informieren, und es geht mir jetzt ein klein wenig besser - zumindest habe ich mich so weit im Griff, dass nicht jeder auf der Straße sofort Reißaus vor mir nimmt.
»Ihr und eure ganzen Heimlichkeiten«, meint sie jetzt. »Die bringen nichts. Zuerst du mit deiner ganzen Heimlichtuerei, dann treibt sich auch noch dein Vater wie ein Schuljunge hinter dem Fahrradschuppen herum. Und deine Mutter legt bei deinem besten Freund, den sie für einen Priester hält, weil du zu viel Schiss hast, ihr zu sagen, dass er schwul ist, eine geheimnisvolle Beichte ab. Und dann noch deine liebe Schwester, die ihren Freund geheim hält wegen ... weswegen noch mal? Weil er vermögend, erfolgreich und äußerst anständig ist? Was ist nur mit euch Bickerstaffs los? Würde ich für Jerry Springer recherchieren, würde ich ihn umgehend anrufen und ihm mitteilen, dass ich Material für eine ganze Staffel habe.«
Ich bringe ein dünnes Lächeln zu Stande. Wir haben allesamt tatsächlich einen ordentlichen Hau weg.
»Sollte dein Vater tatsächlich die große Entdeckung gemacht haben, dass sein Willy nicht nur zum Pinkeln da ist, und sollte deine Mutter allmählich wirklich durchdrehen, wäre das vielleicht der ideale Zeitpunkt, um deine kleine Rakete zu zünden. Vermutlich geht sie in dem ganzen
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