Marter: Thriller (German Edition)
beherrschte und das Land sehr gut kannte. In der Zwischenzeit, so hatte Mike gesagt, sollte sie sich in Bezug auf Nathans’ Arbeitsplan auf den neusten Stand bringen und sich nützlich machen.
Als sie den Ausdruck studierte, den ihre Vorgängerin hinterlassen hatte, wurde ihr klar, dass Mike nicht übertrieben hatte, als er ihr Aufgabenfeld als nicht sonderlich aufregend beschrieben hatte. Die Vorstellung des Militärs von einer Hearts-and-Minds-Initiative schloss unter anderem ein Interview mit der Ehefrau eines Colonels für den Newsletter des Stützpunkts mit ein. Darin ging es um ein Leseförderprogramm, das sie an einer örtlichen Grundschule ins Leben gerufen hatte. Außerdem hatte sie einen ortsansässigen Wohlfahrtsverband für behinderte Kinder auf die campeigene Bowlingbahn eingeladen und ein regelmäßiges Pasta-Essen für Nudelfreunde in der Kantine organisiert. Doch all das war für sie vollkommen in Ordnung. Sie war in dem vollen Bewusstsein hierhergekommen, dass derartige Dinge von jetzt an ihren Tag bestimmen würden und nicht der Rausch des Kampfes. Ihr reichte es aus, allein wieder in Italien zu sein.
Sie war in der Umgebung von Camps wie diesem aufgewachsen, hatte Nachos aus dem campeigenen Supermarkt gegessen und war auf Barbecues eingeladen worden, wo lediglich Kinder und Frauen keine Uniform trugen. Während ihr Vater von einem Ort zum anderen abkommandiert worden war, hatte sie alle anderthalb Jahre die Schule gewechselt; wie jedes Kind eines Armeeangehörigen wurde sie schnell zur Expertin in Sachen Freundschaften, oder zumindest machte es den Anschein. Besser noch war sie allerdings darin, die minimalen Rangunterschiede zu kennen, die dafür sorgten, dass die Kinder eines Officers nicht versehentlich die Abkömmlinge eines einfachen Private zu sich nach Hause einluden.
Dann, als sie neun Jahre alt war, wurde ihr Vater ins Camp Darby südlich von Pisa versetzt, woraufhin ihre Eltern den eher ungewöhnlichen Entschluss gefasst hatten, außerhalb des Camps leben zu wollen, in einem ganz gewöhnlichen italienischen Wohnblock. Holly hatte man in eine örtliche Schule gesteckt; wenn die italienischen Kinder Englischunterricht gehabt hatten, hatte sie Einzelunterricht in Italienisch bekommen. Binnen einem einzigen Schuljahr beherrschte sie es fließend, während ihre Brüder immer so ihre Probleme damit hatten. Doch mehr noch als die Schule war es die neue Umgebung, die es ihr erleichtert hatte, sich anzupassen, denn die Nachbarn hatten die Bolands gleich auf Anhieb zu sich eingeladen in ihr Heim – zu diesen Gelegenheiten hatte sie nicht selten als Übersetzerin für den Rest ihrer Familie fungiert. Am Ende hatte sie zwei Namen gehabt, denn für ihre italienischen Freunde, die Probleme mit dem H hatten, war sie immer nur »Ollie«.
Großeltern, Cousins und Cousinen und beste Freunde sah man als Kind eines Militärangestellten vielleicht ein Mal im Jahr, wenn man Glück hatte. Selbst die Väter kamen und gingen, so unvorhersehbar, wie Kriege eben waren. Ihre neuen italienischen Freunde dagegen lebten in der Regel nicht nur mit beiden Elternteilen zusammen, sondern oftmals auch mit den Großeltern. Ihre Väter kamen jeden Tag zum Mittagessen nach Hause; die Verwandten wohnten gleich um die Ecke, und alle standen zwischen fünf und sieben Uhr abends zusammen draußen auf der Straße, um sich zu unterhalten, zu flirten und Fußball zu spielen. Die Jungs nannten ihre Väter papà und nicht Sir; Väter gaben ihren Söhnen Kosenamen. Und schon bald war ein Teil von ihr unwiderruflich zur Italienerin geworden. Als sie älter wurde, hatte sie die ersten Freunde gehabt, die Luca oder Giancarlo hießen und nicht Dwight oder Lewis, jene Jungs, denen sie bei militärischen Zusammenkünften begegnete.
Kurze Zeit machten ihre Eltern sich Sorgen, denn das Verhalten einer Jugendlichen, so sagte man, färbe auf die Fähigkeit eines Vaters ab zu befehligen: Sobald sie sich Ärger einhandelte, würde dies zuallererst an den obersten Kommandanten des Stützpunkts weitergeleitet werden und erst dann an ihren Vater. Wäre sie schwanger geworden oder hätte man sie mit Drogen erwischt, hätte man die ganze Familie in Schande nach Hause zurückgeschickt. Doch man hatte ihr genug vertraut, um sie ihre eigenen Fehler machen zu lassen. Außerdem, so wurde Holly erst Jahre später klar, hatte man nicht nur ihr dieses Vertrauen entgegengebracht, sondern auch den italienischen Nachbarn. Nicht dass sie je der Typ gewesen
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