Martin, Kat - Perlen Serie
ihre Tür, vergewisserte sich, dass nie- mand auf dem Gang war, und eilte in den hinteren Teil des Hauses, wo sie über die Dienstbotentreppe auf die Straße ge- langte.
Statt mit einer Mietkutsche zu fahren, legte sie den kurzen Weg zu Fuß zurück. Mayfair war der vornehmste Stadtteil Londons, und sie zweifelte keinen Moment daran, dass sie hier sicher war.
Sie war nur noch einen Häuserblock von der Greenbower Street entfernt, als sie hinter sich eine herannahende Kutsche hörte. Eilig zog sie sich ihren Schal enger um die Schultern, senkte den Kopf und lief weiter. Auf einmal hörte sie einen scharfen Befehl, der dem Kutscher gebot anzuhalten.
„Um Himmels willen, Victoria! Sind Sie es wirklich?" Sie er- kannte Julians vertraute Stimme, die durch das Fenster der
eleganten schwarzen Kutsche zu ihr drang. „Was um alles in der Welt machen Sie hier um diese Zeit - und ganz allein?" Sie seufzte und drehte sich um. Wie sehr hatte sie gehofft, dass sie niemandem begegnen würde, der sie kannte!
„Guten Abend, Julian." Zwar hatte sie gewusst, dass er in May fair wohnte, allerdings schien es ihr ein äußerst dummer Zufall zu sein, ihm ausgerechnet jetzt zu begegnen. „Ich habe keine Zeit für Erklärungen. Es gibt etwas sehr Wichtiges, das ich erledigen muss. Bitte erzählen Sie niemandem, dass Sie mich gesehen haben."
Neugierig zog er eine seiner dunklen Augenbrauen in die Höhe. „Natürlich ... Aber nur, wenn Sie mir sagen, was Sie vorhaben. Ich werde Sie zu dieser Stunde nicht allein hier zu- rücklassen."
Ach je, auch das noch! „Es ist wirklich eine lange Geschich- te, Julian."
Die Tür der Kutsche ging auf, und er bedeutete ihr einzustei- gen. „Ich habe viel Zeit. Am besten erzählen Sie mir, was Sie zu dieser Stunde noch vor die Tür treibt, und freunden sich schon einmal mit dem Gedanken an, dass ich nicht eher von Ihrer Seite weichen werde, bis Sie Ihr geheimnisvolles Unter- fangen erledigt haben und ich Sie wieder sicher zu Hause weiß."
Er würde sich nicht davon abbringen lassen. Und sie ver- traute Julian: Ganz gleich, was sie ihm erzählte, er würde nichts verraten.
Deshalb raffte sie ihren Rock zusammen, stieg in die Kutsche und begann, in groben Zügen zu schildern, wie es zu ihrem Verdacht hinsichtlich Miles Whiting, Baron Harwood, gekom- men war.
„Ich glaube, dass meine Mutter die Wahrheit entdeckte, kurz bevor sie krank wurde, und dass sie starb, bevor sie noch ir- gendetwas unternehmen konnte. Falls dem so war, würde sie sich zumindest ihrem Tagebuch anvertraut haben. Ich muss es unbedingt finden!"
„Ich verstehe. Und Sie glauben, dass es sich im Stadthaus von Sir Winifred befinden könnte?"
„Ja."
Julian klopfte mit dem silbernen Knauf seines Stocks an die Decke der Kutsche und wies seinen Fahrer an, in die Greenbo- wer Street zu fahren.
Dort angekommen, stiegen sie zusammen aus der Kutsche,
gingen an den Nebengebäuden vorbei und suchten an der Rückseite des Hauses nach einer Möglichkeit hineinzugelan- gen.
„Hier", sagte Julian leise. „Eines der Fenster ist nicht verrie- gelt. Ich klettere hinein und lasse Sie dann vorne ins Haus." Sie nickte und war dankbar, dass er ihretwegen so viel aufs Spiel setzte - und es ihr ersparte, selbst durch das Fenster zu klettern.
Kurz darauf stand sie bereits in der Eingangshalle des Hau- ses. Beim schwachen Schein einer kleinen Messingleuchte be- gannen sie, sich umzusehen. Da der Baron das Haus damals mitsamt dem Inventar verkauft hatte, wirkte fast alles genau- so, wie sie es in Erinnerung hatte. Sie erkannte die üppig auf- gepolsterten Sessel und die verglasten Bücherschränke, die das Haus weniger modern als vielmehr gemütlich und wohn- lich erscheinen ließen. Von Erinnerungen bewegt, folgte sie Ju- lian die Treppen hinauf in den ersten Stock.
„Das Zimmer meiner Mutter war am Ende des Ganges", sag- te sie leise. „Gleich nebenan hatte sie ihr Nähzimmer."
„Die Räume müssen nicht mehr so aussehen, wie Sie sie in Erinnerung haben", warnte Julian.
Doch sie hatten Glück und fanden das Zimmer ihrer Mutter fast unverändert vor.
Eilig begann Tory, jedes der ihr vertrauten Möbelstücke zu durchsuchen, in der Hoffnung, auf ein Versteck zu stoßen, in dem das Tagebuch verborgen war.
„Vielleicht hat es bereits jemand gefunden", wandte Julian ein.
„Ich bin mir sicher, dass es dann an mich zurückgegeben worden wäre."
„Vielleicht."
Was immer auch mit dem Tagebuch geschehen sein mochte, es war nicht
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