MASKENBALL UM MITTERNACHT
vergnügungssüchtig erschienen? Zu leichtlebig?
Oder hielt Bromwell sie sogar für eine liederliche Person? Die Erinnerung an die Küsse am Springbrunnen trieb ihr die Schamröte ins Gesicht. Vielleicht hielt er sie für kühn und schamlos? Das wäre freilich ungerecht, denn er hatte sich mit gleicher Leidenschaft an den Zärtlichkeiten und Küssen beteiligt. Aber sie wusste natürlich auch, dass Männer in ihrem moralischen Urteil über Frauen häufig nicht gerecht waren. Ein junger Mann durfte eine Affäre mit einer Frau haben, ohne dass ein Hahn danach krähte. Eine junge unverheiratete Frau hingegen wäre ruiniert, wenn sie sich mit einem Mann einließ. Ein Mann durfte den Wunsch haben, mit einer Frau das Bett zu teilen, wenn sie sich ihm allerdings hingab, verlor er die Achtung vor ihr und weigerte sich oftmals, sie zu heiraten. Derlei Geschichten kamen ihr immer wieder zu Ohren, seit sie in die Gesellschaft eingeführt worden war.
Sie spürte die besorgten Blicke, die Francesca ihr gelegentlich zuwarf. Und als die letzten Gäste gegangen waren, kam Francesca direkt zur Sache. „Vielleicht“, begann sie, „musste Lord Bromwell überstürzt abreisen wegen eines Notfalls auf seinem Landgut oder etwas Ähnlichem, und es blieb ihm keine Zeit, uns eine Nachricht zukommen zu lassen.“
„Ja, das wäre denkbar“, antwortete Callie und rang sich ein Lächeln ab. „Aber vielleicht ist er auch nur wankelmütig. Solche Männer soll es ja geben.“
„Den Eindruck erweckte er allerdings nicht“, antwortete Francesca und ihre Stirnfalte vertiefte sich. „Ich habe mir überlegt … Ach was, es ist zu früh für Ratespiele. Wir warten einfach ab, ob er uns davon unterrichtet, was geschehen ist. Vielleicht steht er bereits morgen mit einer plausiblen Erklärung vor der Tür.“
Callie konnte sich keine plausible Erklärung denken, da er mittlerweile Gelegenheit gefunden haben sollte, ihnen eine Nachricht zukommen zu lassen. Andererseits lag ihr daran, dieses Gespräch möglichst rasch zu beenden, da es ihr mit jeder Sekunde schwerer fiel, ihre Besorgnis und Angst zu verbergen. Wenn Francesca dieses Thema noch länger erörterte, fürchtete sie, in Tränen auszubrechen.
Zum Glück schien auch Francesca den Wunsch zu haben, die Sache ruhen zu lassen, und begann, über die Kleiderfrage für den heutigen Opernbesuch zu plaudern. Callie griff das Thema erleichtert auf, und die Freundinnen besprachen sämtliche Accessoires in allen Einzelheiten.
Gideon und Irene hatten die Damen in ihre luxuriöse Loge eingeladen. Callie verwandte besondere Sorgfalt auf Toilette und Frisur. Falls sie Lord Bromwell heute Abend zufällig begegnete, wollte sie besonders vorteilhaft aussehen, um ihm zu zeigen, dass sie glücklich und guter Dinge war.
Aber es kam zu keiner Begegnung in der Oper, und Callie wusste nicht, ob sie darüber traurig oder erleichtert sein sollte. Ein zufälliges Treffen hätte bedeutet, dass er nicht gezwungen war, die Stadt wegen eines Notfalls auf seinem Landgut oder einer andersgearteten Dringlichkeit zu verlassen. Es wäre allerdings der Beweis dafür, dass er sie schlicht und einfach nicht sehen wollte.
Am nächsten Nachmittag nahm Callie sich vor, Freunde zu besuchen. In den letzten Tagen war sie nicht ausgegangen, um auf Lord Bromwells Besuch zu warten. Nun wollte sie nicht länger untätig im Haus herumsitzen und verdrängte tapfer die nagende Sorge, er könne ausgerechnet in ihrer Abwesenheit vorbeischauen. Es geschah ihm ganz recht, wenn er sie nicht antraf, damit würde er wenigstens wissen, dass sie ihm nicht nachtrauerte.
Als sie am Spätnachmittag zurückkam, konnte sie jedoch nicht widerstehen, die Visitenkarten auf dem Silbertablett in der Halle durchzufächern, um zu sehen, ob Bromwells Karte dabei war. Sie war nicht dabei.
Francesca hatte Lord Bromwells Namen seit ihrer kurzen Diskussion vor zwei Tagen nicht wieder erwähnt. Und Callie bewunderte die Fähigkeit der Freundin, immer wieder neuen Gesprächsstoff zu finden, ohne den wunden Punkt zu berühren.
Am nächsten Abend fand Lady Smythe-Furlings Ball statt. Die Dame war keineswegs berühmt für glanzvolle Feste, aber es war das einzige gesellschaftliche Ereignis an diesem Abend, und Callie war mittlerweile fest entschlossen, jede Gelegenheit zu nutzen, um sich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Sie wollte sich vergnügen, wollte tanzen und plaudern, alles tun, um sich von trüben Gedanken und Zweifeln abzulenken.
Bereits kurz nach dem
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