Maskenschmuck (German Edition)
schlug, jetzt doch neugierig geworden, das Buch auf. Steile, sehr sorgfältige, leicht verblichene Buchstaben, bedeckten eng geschrieben die Seiten. Das war jedenfalls nicht die Schrift ihrer Mutter. Lesen konnte sie es leider auch nicht, die Schrift musste Sütterlin sein. Enttäuscht blätterte sie weiter. Es waren nur ungefähr fünfzig oder sechzig Seiten beschrieben. Ah, hier die letzten Seiten trugen eindeutig die Handschrift ihrer Mutter. Es war wohl auch kein Tagebuch – mehr eine fortlaufende Geschichte. Am Ende hatte sie unterschrieben mit ihrem Mädchennamen und das Datum dazu gesetzt: 15. Juni, 1975
15. Juni! Klar, da brauchte Rebecca nicht lange nachzudenken. Das war der Hochzeitstag ihrer Eltern. Nicht, dass sie je weiter darüber nachgedacht hätte, ihre Eltern hatten diesen Tag meist vergessen, aber dieser Tag war gleichzeitig Rebeccas Geburtstag. Sie war nämlich auf den Tag genau zwei Jahre später zur Welt gekommen. Ihre Mutter hatte es gerade noch rechtzeitig ins Krankenhaus geschafft. Wie meist war sie mit ihrem Mann auf der Suche nach seltenen oder vom Aussterben bedrohten Lebewesen im Ausland gewesen. So hatte sie ihre Tochter unter denkbar primitiven Umständen in Indien geboren. Aber beide hatten es gut überstanden.
„Das war auch gut so!“, hatte ihre Mutter viel später zu ihr gesagt, „Da hast du sofort Überlebenswillen gezeigt.“
Sie hatten Rebecca gelegentlich auf ihre Reisen mitgenommen, aber in der Schulzeit hatten sie sie immer öfter bei Laras Familie gelassen oder bei Tante Margot, die eigentlich ihre Großtante und schon viel zu alt für so ein kleines Mädchen gewesen war. Tante Margot war eine despotische alte Dame, die aber nichtsdestotrotz ihrer Großnichte sehr zugetan war und dies je nach Stimmung auch zeigte. Sie hatte seit ihrer Scheidung von ihrem Mann ganz zufrieden für sich allein gelebt.
Rebecca blätterte zurück.
Mein Hochzeitskabinett
stand da als Überschrift in der energischen Handschrift ihrer Mutter.
Es ist nicht so, dass ich den Schrank nicht schön finde, auch finde ich es nett von Tante Else, dass sie ihn mir vermacht hat. Aber musste Tante Margot mir vor allen versammelten Familienmitgliedern sagen, dass diese Gabe genau die Richtige träfe? Jetzt könnte ich hoffen, auch in meinem fortgeschrittenen Alter noch zu einem Ehemann zu kommen? Ich hätte sie erschlagen können! Ausgerechnet Tante Margot! Sie selbst hat schließlich nie wieder geheiratet und lebt allem Anschein nach doch recht zufrieden in diesem Zustand vor sich hin. Wir sind schließlich nicht mehr im Mittelalter , und ich kann sehr gut für mich sorgen ...
In diesem Augenblick klingelte das Telefon.
„Du wolltest mich doch anrufen“, ertönte Nickis leicht vorwurfsvolle Stimme, „Was steht in dem Buch? Gibt es ein dunkles Geheimnis?“
„Wenn es eines gibt, kann ich es nicht lüften. Der Anfang ist in altdeutscher Schrift geschrieben und das ist nicht mein Ding“, sagte Rebecca, „Aber den Rest hat meine Mutter geschrieben. Bei der Lektüre hast du mich gerade unterbrochen. Scheint aber auch nichts Wichtiges zu sein, sie schreibt sich irgendeinen Frust über Tante Margot von der Seele.“
Nicki kicherte: „Ach, war sie damals schon so schrecklich? Aber Tante Margot kannst du doch nach der Schrift fragen, die kann das sicher lesen.“
„Darauf bin ich auch gerade gekommen, du Schlaumeier. Ich ruf sie gleich mal an, wann ich vorbei kommen kann. Ich war sowieso schon zu lange nicht mehr bei ihr“, und mit einem hinterhältigen Grinsen, „Du willst doch sicher mit? Tante Margot würde sich ganz bestimmt schrecklich freuen. Kennt sie dich überhaupt noch?“
Durch den Hörer kam ein hörbares Schaudern: „Das tu ich mir bestimmt nie wieder an. Das mach du mal allein. Ich hab jetzt auch gar keine Zeit mehr. Mir fällt ein, ich muss unbedingt noch Vokabeln lernen. Wir schreiben morgen eine Lateinarbeit.“
Ein kurzes „Tschüss“, und die Leitung war tot.
Rebecca lachte. Nicki war nur wenige Male bei Tante Margot gewesen, jedes Mal endete in einer Katastrophe. Nicki schaffte es in kürzester Zeit, in der voll gestellten Wohnung irgendetwas umzuwerfen oder kaputt zu machen. Margot, die an jedem ihrer Dinge hing, nahm dies als persönliche Beleidigung und die beiden trafen sich nur noch, wenn es gar nicht zu vermeiden
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