Massiv: Solange mein Herz schlägt
war der erste Schritt, die Dinge zum Besseren zu verändern, auszusprechen, was falschlief.
Zwei Jungs bedankten sich für ein Autogramm, und ich bedankte mich, weil sie für meinen Auftritt extra aus München angereist waren. Ein Mädchen fing an zu weinen und umarmte mich stürmisch. Das Interesse an dem Rap-Star Massiv wuchs stetig. Vor meiner Haustür campierten Jugendliche für ein Autogramm, das Treppenhaus war vollgekrakelt mit Schriftzügen wie »Massiv, ich liebe dich« oder auch »Verpiss dich aus Wedding« – das war typisch für die Reaktionen auf die Figur Massiv: Entweder man hasste oder liebte sie. Mein Zimmer hatte sich in ein Archiv für Zeitungsartikel, Poster, Plakate, Preise und Fanbriefe verwandelt. Ich erhielt unzählige Briefe – mein Briefkasten und E-Mail-Postfach explodierten förmlich. Wenn ich einkaufen, essen, ins Studio oder in die Innenstadt ging, kamen Fans auf mich zu, manchmal verhaspelten sie sich, selbst Jungs fingen an zu weinen. Wenn ich tröstend nach dem Grund fragte, meinten sie mit erstickter Stimme, sie könnten es nicht fassen, mich zu treffen – mich, einen Niemand aus Pirmasens. Unfassbar. Jugendliche wollten Autogramme auf ihre Kleidung, Frauen auf ihre Dekolletés, unzählige Teenager ließen sich den Löwenkopf von Al Massiva auf Arm, Rücken oder Schultern tätowieren – ich hatte einen ganzen Ordner voll mit Fotos von solchen Verewigungen.
Ein Mann, ein erwachsener Mann, stellte sich neben mich hin und bat mich höflich um ein Foto. Er schien nervös zu sein und legte hastig seinen Arm um meine Schultern. »Du bist der Beste, du schenkst uns Mut – danke«, sagte er schüchtern, und ich lächelte in die Kamera.
Massiv war eben beliebt. Auch bei den Frauen. Frauen und junge Mädchen boten sich an wie Waren auf einem Basar, und das nur, weil ich Massiv war. Sie schrieben mir Liebesbriefe, klingelten an unserer Haustür, bis sie von meinen Eltern abgewimmelt werden mussten. Meine Mutter schüttelte nur den Kopf und meinte, früher hielten die Männer um die Hand der Frauen an, heute sei es umgekehrt. Natürlich gab es schwache Momente, in denen ich nachgab und mitnahm, was gerade kam, doch meistens ging ich auf solche Angebote nicht ein, denn mir fehlte bei so was der Nervenkitzel des Eroberns. Außerdem zählten für mich in erster Linie meine Musik und der Erfolg, den ich damit hatte – billig zu habende Frauen, Partys, rote Teppiche waren eine Welt, mit der ich mich nicht identifizieren konnte. Ich versuchte immer, eine gesunde Distanz zu dieser oberflächlichen Welt zu wahren, zu einer Welt, in der sich ein sinnloser Small Talk an den anderen reiht, in der jeder etwas von dir will und doch keiner ernsthaftes Interesse an dir hat, in der Menschen und Träume käuflich werden. Im Grunde können diese Menschen nicht einmal etwas dafür. In einer Welt, die von den Reichen und Schönen dominiert wird, in der uns Magazine tagtäglich das luxuriöse Leben der Stars vorführen und uns veranschaulichen, wie erbärmlich unser eigenes doch ist, kann es zu einer Herausforderung werden, sich nicht verkaufen zu wollen. Man sieht Menschen, die scheinbar alles besitzen, erfolgreich, reich und berühmt sind und trotzdem am Abgrund ihres eigenen Ichs stehen. Warum? All diese Zeitschriften und die Fernsehsendungen können doch nicht lügen! Diese Menschen haben doch alles und noch viel mehr: Ruhm, Geld, Erfolg. Wie kann man da nicht glücklich sein?
Rasch merkte ich, dass wir Menschen mehr als das sind, was uns die Medien tagtäglich erzählen. Unsere Seele dürstet nach echten Träumen und Anerkennung, sie hasst das oberflächliche Leben in einer kühlen Plastikwelt, sie hasst kaufbare Träume, die nicht unsere eigenen sind, sondern die wir aus dem Fernseher haben, und vor allem verabscheut sie sinnlose Liebschaften, bedeutungslose Small Talks, Beziehungen, die nur Mittel zum Zweck sind.
All diese Dinge gehören zu einem funktionierenden System, in dem man irgendwie mitspielen muss – doch man muss auch lernen zu unterscheiden: zwischen dem, was echt, und dem, was nur gespielt ist. Während meiner Musikkarriere sah ich Menschen, die das nicht verstanden, die Spiel und Wirklichkeit miteinander vermischten, die glaubten, Ruhm und Geld sei das Höchste aller Dinge – und als sie dort angelangt waren, verkümmerten sie, schrumpelten seelisch zusammen wie ein fauler Apfel. Andererseits macht verschuldet und erfolglos zu sein natürlich auch nicht glücklich.
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