Massiv: Solange mein Herz schlägt
schreckte mich nicht ab. Arabische Großfamilien, Weddinger, Berliner – sie waren alle schon hinter meinem Kopf her, was konnten mir da noch ein paar Schalker? Also überlegte ich, was wohl in dieser Situation, in der mich ein großer Teil der Jugendlichen aus dem Ruhrgebiet lynchen wollte, das Beste war – und beschloss, ein Konzert in Duisburg zu geben, mitten im Herzen des Ruhrgebiets. Zumindest konnte ich mich über einen ausverkauften Saal freuen.
Ashraf, Haydar und ich fuhren, unterstützt von einer Horde Jungs, in die Höhle des Löwen. Schon vor dem Konzert bemängelte Ashraf die Sicherheitslage im alevitischen Kulturzentrum, wo das Konzert stattfinden sollte, doch ich war Feuer und Flamme, mein Ding durchzuziehen – ich hatte schon immer einen Hang zu lebensmüden Ideen gehabt. Die Halle füllte sich. Als ich von der Bühne aus in die Menge linste, war ich mir fast sicher, alles würde glattgehen. Da draußen waren nur Massiv-Fans, redete ich mir ein, die Drohungen waren nur leere Worte. Ich setzte meine Sonnenbrille auf, das Licht ging aus, der Beat an, und ich sprang mit meinem um den Kopf gewickelten Palästinensertuch auf die Bühne und überließ meinen Schutz den Securities. Die Menge grölte, die Jugendlichen hoben ihre Hände, und ihre Lippen bewegten sich synchron zum Text. Nachdem ich einmal über den Bühnenrand gefegt war – nach noch nicht einmal sechzehn Takten –, spürte ich einen harten Stoß gegen meine Halsschlagader, der mich nach vorne taumeln ließ und kurzzeitig außer Gefecht setzte. Der Fausthieb kam derart schnell und unerwartet, dass ich von der Bühne ins Publikum fiel. Die Menge machte mir netterweise Platz, und ich klatschte mit dem Gesicht voran auf den harten Boden. Dann geschah etwas, was mir als Schuljunge schon einige Male passiert war: Die Jungs umringten mich und verprügelten mich nach allen Regeln der Kunst. Der Prototyp-Kanake, der Härte und Stärke in allen Facetten repräsentierte, war gerade wie ein besiegter Gladiator zu Boden gefallen, und es schien wohl zum eigenen Prestige zu gehören, noch auf ihn einzutreten.
Ich spürte Tritte in die Nieren, gegen den Kopf und den Unterleib, immer wieder versuchte ich aufzustehen, wurde aber von den Massen heruntergedrückt. Irgendjemand reichte mir die Hand, und ich rappelte mich hoch. Einige Fans und Freunde bahnten sich einen Weg zu mir und boxten sich durch die aufgebrachte Menge. Ich vernahm Ashrafs Rufe, der mich wahrscheinlich noch in der Menge suchte. Als ich einen Blick in die wütenden Massen riskierte, offenbarte sich mir ein Bild der Verwüstung: Stühle, Tische flogen durch die Luft, jeder prügelte sich mit jedem, ich hatte keinen Überblick, wer gegen und wer für mich war. Ich verspürte einen brennenden Schmerz an meinem Hals. Womit hatte man mich geschlagen, dass ich derart filmreif k.o. gegangen war?
Inmitten der prügelnden Jugendlichen erkannte ich meinen Angreifer und beobachtete ihn dabei, wie er versuchte, sich Richtung Ausgang durchzukämpfen. Ich kochte vor Wut, immerhin hatte mich der Kerl vor mehreren Hundert Jugendlichen, von denen so einige ihre Handykameras auf mich gerichtet hatten, zu Boden geschickt. Dieses Video würde wahrscheinlich in einigen Stunden im Netz sein – wenn es nicht jetzt schon auf YouTube herumgeisterte. Mehrere Millionen würden sich ansehen können, wie ich auf die Fresse gekriegt hatte. Das machte mich rasend. Gut, dachte ich mir, die wollen eine Show, also gebe ich ihnen ihre Show. Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge, einige Jungs hängten sich wie Blutegel an meinen Körper, ich schüttelte sie ab, während mir eine Horde Fans, wie eine Leibgarde, den Weg frei machte. Die Massenschlägerei verlagerte sich nach draußen, ohne ersichtlichen Grund schlugen Hunderte Jugendliche aufeinander ein, die gesamte Veranstaltung war aus allen Fugen geraten. Auf der Suche nach dem Angreifer geriet ich zwischen die Fronten, bekam Fausthiebe ab und schlug zurück. Ständig drückte mir jemand ein Messer, einen Schlagring oder etwas anderes zur Abwehr in die Hand. Ich warf die Waffen weg, schließlich wollte ich dem Angreifer eine Lektion erteilen und ihn nicht umbringen.
Im Freien fand ich auch Ashraf. Sichtlich erleichtert, mich zu sehen, rief er mir etwas zu. Ich konnte ihn nicht verstehen. Er machte eine Handbewegung und deutete an, dass wir nach drinnen gehen sollten. Ich folgte ihm zum Hintereingang. Wir schüttelten unsere Verfolger ab und verbarrikadierten
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