Mauer, Jeans und Prager Frühling
bin gebürtige Leipzigerin und kenne noch das alte Stadtzentrum. Das hält natürlich keinem Vergleich mehr stand. Jetzt wird es schöner, als es jemals gewesen ist. Diesem Vorhaben gebe ich aus ganzem Herzen meine volle Zustimmung«, schreibt Vera Schatz, Verkaufsstellenleiterin.
Es gab sie tatsächlich, jene Menschen, denen ein häßlicher Neubaublock besser gefiel als eine spätgotische Kirche. Viele dieser Zeitgenossen, denen die Baustile vergangener Epochen nichts sagten, waren an der Macht, denn es hieß ja auch schon in den fünfziger Jahren in Dresden: »Wir bauen Dresden schöner denn je!« Die LVZ schrieb über die Neubaupläne »Viele werden helfen« und wurde auch gleich konkret: »Der Anstreicher Oswald Kittel sprach für seine sozialistische Brigade: ›Die Entwürfe sind einfach Klasse, eben Weltklasse. Unser Kollektiv ist dabei, wir wollen zu den Schrittmachern zählen.‹« Und dann hat der Oswald wohl forsch seinen Kittel angezogen.
Im »Casino« lief am 29. Mai jenes Jahres der polnische Film »Asche und Diamant«. Zufall? Am Karl-Marx-Platz würde ja tatsächlich ein Diamant zu Asche werden.
Die Kinos zeigten in jenen Tagen auffallend viele westliche Produktionen. Sollten sie die Demonstranten vom Platz weglocken? Es gab »Ein Mann und eine Frau«, »Manche mögen’s heiß«, »My fair Lady«, »Das große Rennen rund um die Welt«, »Cheyenne« …
Am 30. Mai war der »AZET« die Sprengung der Universitätskirche keine Schlagzeile wert.
Was war die »AZET«?
Eine sozialistische Boulevardzeitung, eine Abendzeitung, die mittags für zehn Pfennige verkauft wurde, meist von Rentnern. Einen der Verkäufer sehe ich noch vor mir. Er rief sie immer nuschelnd aus. Nuschelnd deshalb, weil er stets eine Zigarre im Mund hatte. Ich erinnere mich sogar noch an die Marke. Die Sorte hieß SWIRTIGAL.
Mitunter verkauften auch Studenten die »AZET«. Ich kannte einen, der Schlagzeilen erfand und die dann ausrief. Etwa: »AZET – der Papst boxt wieder!«
In dieser Gazette stand also am 30. Mai unten links auf der Titelseite lediglich: »Baufreiheit für die neue Uni«. Die Redakteure interessierte, wie sich die Mitarbeiter des Hotels Deutschland auf diesen Tag vorbereitet hatten. Direktor Wirsig erzählte: »Das Frühstück wurde von allen Gästen heute etwas früher eingenommen als gewöhnlich … Unser Hotel ist voll belegt, und wir sprachen mit fast allen Gästen persönlich. Dabei hörten wir immer wieder, daß sie für den Aufbau eines solch schönen Stadtzentrums gern zwei Stunden Unbequemlichkeit in Kauf nehmen.«
Auf der nächsten Seite eine Karikatur. Petrus auf einer Wolke, durch die der Bauplan für die neue Karl-Marx-Universität mit der Silhouette des Hochhauses stößt. »Die woll’n ja hoch hinaus …« Und die Sonne lacht dazu. Positive Satire.
Über Dresden wird in dieser Ausgabe geschrieben: »Großbaustelle Nr. 1 im Zentrum ist die Prager Straße, die 1970 eine der schönsten Fußgängermagistralen Europas sein wird.« Da ist er wieder, dieser Größenwahn des Politbüros. Die triste Prager Straße, diese Wohnungen und Hotelsin Plattenbauweise waren automatisch sozialistisch und darum schön.
Noch eine Notiz aus jener Ausgabe: »Heute setzt das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei seine Plenartagung auf dem Hradschin fort. Der Erste Sekretär des ZK , Alexander Dubček, hatte sie gestern mit seinem Referat eröffnet.« Ende der Durchsage. Kein Wort, kein Satz aus dem Referat.
Am 31. Mai ist in der LVZ von Prof. em. Hugo Müller zu lesen: »Hier hat der sozialistische Mensch die Umwelt geschaffen, in der er zu leben gedenkt. Hier wird ein Teil der Riesenschuld des Kapitalismus gestrichen und den Leipziger Bürgern das Bewußtsein von dem sozialistischen Wohlbefinden wiedergegeben, das der Kapitalismus ihnen geraubt und vorenthalten hat.«
Und Ruth Hoffmann jubelt: »Wie schön wird nun erst unser Stadtzentrum, und was nicht zum neuen Stadtbild mehr paßt, muß eben nach und nach verschwinden.«
Da gäbe es ja noch einiges, was nicht mehr zum neuen Stadtbild paßt … zum Beispiel … Das Alte Rathaus … wie das schon klingt. Oder die Alte (!) Börse … auch so ein kapitalistisches Überbleibsel.
Robert Sauer (NDPD), Inhaber der Gaststätte Thüringer Hof, in dem es eigentlich gutbürgerlich zugeht, dieser Herr Sauer also verbeugt sich ebenfalls vor der Macht: »Endlich werden in der Weltmessemetropole konsequent die Überreste der Vergangenheit
Weitere Kostenlose Bücher