mayday mayday ... eastern wings 610
Mallorca-Katastrophe verlor. Aber Bescheid wußten sie. In den letzten vier Jahren hatten sie Anja immer wieder an seiner Seite gesehen. Anja war so gern geflogen. Und hatte sich dafür alle Zeit genommen, die sie bekommen konnte.
So saß er in seinem Sitz und blickte in die Sterne. Wie gestern. Und auch gestern nacht zwischen den Felsen von Dos Marias war er nichts gewesen als ein Schatten …
Als Brückner das Cockpit verließ, war es in der Kabine ruhig geworden. Die Helden schliefen.
18. September , Frankfurt am Main , Ortszeit: 16 Uhr 05
Die Windströmung war günstig. Die Maschine landete pünktlich. Er überlegte, ob er Nick Herbert anrufen sollte. Vielleicht hatte Nick inzwischen bereits Einzelheiten über den Hergang des Unglücks erfahren. Aber er fühlte sich zu zerschlagen, nein, zu einem vernünftigen Gespräch war er nicht fähig.
Vom ersten Zeitungsstand schon brüllten ihm die Schlagzeilen entgegen: Das Grauen von Mallorca. Jet-Kollision – 262 Tote …
Er kaufte keine Zeitung. Und er hatte Mühe, seinen Koffer über all die Endlosbänder und Endloskorridore zur Personalgarage zu bringen. Er setzte sich in den BMW und ließ den Motor an. Der Wagen schnurrte weich. Es war das einzige vertraute Geräusch, das er seit Ewigkeiten hörte.
Er fuhr wie in Trance. Im Grunde tat der BMW die Arbeit. Er parkte ihn vor der Garage des Hauses in der Drosselstraße in Heidelberg-Handschuhsheim. Dann stieg er aus und sah es an, als betrachte er eine Ansichtskarte. Selbst die Rosen hinter dem Staketenzaun wirkten unwirklich. Anja hatte sie gepflanzt … Das Haus war aus rotem Sandstein gebaut und hatte ein hübsches Schieferdach. Er hatte zur Miete gewohnt, doch je länger er Anjas Gartenbegeisterung miterlebte, desto öfter hatte er daran gedacht, es zu kaufen, und so hatte er noch kurz vor Ostern mit der Bank und der LH-Personalabteilung über einen Kredit gesprochen …
Statt ihn aufzunehmen, wirst du wohl besser ausziehen, dachte er. Hier weiterwohnen? Wie?
18. September , Heidelberg , Ortszeit: 17 Uhr 30
Ihre Bilder hingen an den Wänden. Dazu die Kinderzeichnungen ihrer Schutzbefohlenen, genauso hell und luftig. Und ihr Foto stand im Silberrahmen auf dem Sims des Kamins.
Vor vier Wochen hatte er es noch in die Hand genommen, um es zu zertrümmern.
Es war die Sekunde, als er draußen das Taxi anfahren hörte, das sie wegbrachte. Es war ja so schnell gegangen, daß er gar keine Zeit fand, nachzuvollziehen, was eigentlich geschah.
»Ich gehe, Paul.«
»Schon wieder mal?«
»Du könntest dir diese verdammte Blasiertheit, die du auch noch Selbstsicherheit nennst, endlich abschminken. Du wirst noch dran ersticken.«
Sie hatte nur einen kleinen Koffer in der Hand gehabt. Er wußte, daß sie in ihrer alten Studentenbude in der Brunnengasse nur wenige persönliche Dinge aufbewahrte. Zwei Tage später rief sie ihn an, um ihm mitzuteilen, daß sie mit dieser Psychologin, mit Iris Seifert, nach Mallorca fliegen werde, um dort ein paar Wochen bis zum 17. September zu bleiben.
»Ein Dienstag, Paul. Ich ruf dich wieder an. Ich hol' dann den Rest der Sachen. Solange können sie ja noch bei dir bleiben, oder?«
»Red keinen Unsinn! Natürlich.«
»Also dann, bis Dienstag. Am 17. September.«
Und Dienstag war gestern gewesen …
Die Läden hatte die Putzfrau geschlossen. Er schaltete das Licht an. Er sah sich nicht um, sondern ging zu den Fenstern und riß sie auf. Ein kühler Wind raschelte draußen in den Bäumen. Er ließ ihn ins Haus, ging zur Bar und nahm die Flasche Four Roses. Er goß ein halbes Glas voll, nahm jedoch nur einen kleinen Schluck. Er würde sich nicht betrinken. Er würde eine Dusche nehmen, im Eisschrank nachsehen, ob er noch ein Stück Hartwurst und ein Stück Käse auftreiben konnte. Vielleicht fand er auch ein paar Scheiben Knäckebrot. Und dann? Er hatte immer alle seine Lebenskrisen genommen wie ein Hürdenläufer die Hindernisse – diesmal war es zuviel. Er fühlte sich sterbensschwach, fürchtete sich vor der Kapitulation seiner letzten Kräfte.
Er warf sich in den Sessel und schaltete das Fernsehgerät ein. N-TV brachte Börsenberichte, der amerikanische Satellitennachrichtensender CNN hatte es mit den Republikanern, die Clinton einheizten. Die übrigen Sender brachten den üblichen Schrott.
In dem Augenblick, als er abschaltete, klingelte das Telefon.
»Paul?« – Es war Nick Herbert von der Teamberatung. »Hör zu, wieso hast du dich nicht gemeldet, wenn du schon in
Weitere Kostenlose Bücher