McDermid, Val
Mund formte ein O.
»Und diese Idee mögen wir nicht?«
Was immer Carol hatte
antworten wollen, wurde von einem Klopfen an der Tür übertönt. DS Kevin
Matthews vertraute rotblonde Locken erschienen im Türspalt. »Entschuldigung,
dass ich unterbreche«, sagte er und warf Grisha ein gequältes Lächeln zu.
»Suchst du mich?«, fragte Carol
und stand auf. »Ja. Ein weiterer Jugendlicher steht auf der Vermisstenliste.
Die Zentrale hat es uns gerade durchgegeben.« Carol spürte, wie ihr schwer ums
Herz wurde. Es gab Zeiten, da war dieser Beruf kaum zu ertragen. »Seit wann?«
»Seine Eltern dachten, er
würde bei einem Freund übernachten. Aber das stimmte nicht.«
Lange genug, dachte Carol. Bei
Weitem lange genug.
16
Julia Viner saß auf der Kante
eines bequemen Sessels und hatte die größten Schwierigkeiten, sich ruhig zu
halten. Rastlos trommelten ihre Finger auf ihren Oberschenkeln. Ihr kräftiges
schwarzes Haar, durchzogen von zarten Silberfäden, war sauber zurückgebunden,
wodurch die fein geschnittenen Züge und die olivfarbene Haut mit den kleinen
Fältchen betont wurden. Argwöhnisch und ruhelos wanderten ihre dunklen
Vogelaugen durch den Raum. Sie trug einen weiten Rock und einen weichen
dunkelroten Wollpullover. Kathy Antwon saß auf der Lehne des Sessels, eine Hand
auf Julias Schulter, die andere steckte in der Tasche ihrer Jeans. Carol sah
durch den Stoff, dass sie die Faust ballte. Sie hatte den zornigen, finsteren
Gesichtsausdruck von jemandem, der Angst hat, aber nicht wagt, es sich
einzugestehen. Ihre hellbraune Haut war an den hohen Wangenknochen gerötet,
und die Lippen waren fest aufeinandergepresst. »Was wollen Sie wissen? Wie
können wir helfen, Seth zu finden?«, fragte Julia mit gepresster Stimme. »Sie
müssen absolut offen zu uns sein«, antwortete Carol. »Manchmal wollen Eltern
uns nicht die ganze Wahrheit erzählen, wenn ihr Kind vermisst wird. Sie wollen
nicht, dass ihre Tochter oder ihr Sohn Schwierigkeiten bekommt, oder sie wollen
nicht zugeben, dass sie sich gelegentlich streiten, wie das in jeder Familie
vorkommt. Aber ganz ehrlich: Das Beste, was Sie für Seth tun können, ist,
nichts zu verschweigen.«
»Wir haben nichts zu
verbergen«, erklärte Kathy, und ihre Stimme war heiser und rau von
unterdrückten Gefühlen. »Danke. Als Erstes brauchen wir ein aktuelles Foto von
Seth.«
Kathy sprang auf. »Ich habe
welche, die ich am Wochenende gemacht habe. Sie sind auf meinem Laptop, warten
Sie. Ich hole ihn.« Eilig verließ sie den Raum. Julia blickte ihr nach, und ihr
Gesicht nahm für einen Moment den Ausdruck eines schmerzlichen Verlustes an.
Aber bis sie sich umdrehte und Carol zuwandte, hatte sie sich wieder gefasst.
»Was wollen Sie wissen?«, wiederholte sie.
»Wann haben Sie Seth zum
letzten Mal gesehen?«
»Als ich gestern früh zur
Arbeit ging. Es war wie an jedem anderen Morgen. Wir frühstückten zusammen.
Seth sprach von dem Projekt für den Geschichtsunterricht, eine Aufgabe, bei der
ich ihm helfen sollte. Mein Fach ist Geschichte, wissen Sie. Er meint, dass ich
alles weiß, was vor Mitte letzter Woche geschehen ist.« Sie sprach mit belegter
Stimme und unternahm einen schwachen Versuch, leise zu lachen. »Dann ging ich
zur Arbeit.«
»Wo arbeiten Sie?«, fragte Carol.
»Ich leite das
Bildungsdezernat der Stadtverwaltung«, antwortete sie.
Das erklärte zum Teil, dass
sie sich diesen weitläufigen Bungalow im Stil einer Ranch auf dem
Eckgrundstück in einem Teil von Harriestown leisten konnten, der als »das
Ville« bekannt war. In den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts war
es der Standort von De Ville Engineering Works gewesen, einem großen Komplex,
in dem Flugzeugmotoren, Transportfahrzeuge und Rennwagen gebaut wurden. In den Achtzigern
hatte der letzte der de Villes begriffen, wo die Zukunft lag, verlagerte die
ganze Firma nach Südkorea und verkaufte die Grundstücke an einen hiesigen
Bauunternehmer. Seine Tochter wiederum hatte gerade einen Architekten geheiratet,
dessen Herz an Frank Lloyd Wright und dem amerikanischen Südwesten hing. Das
Resultat war ein landschaftlich gestaltetes Bauprojekt mit vierzig Häusern,
das bei Lifestyle-Zeitschriften weltweit sofort großen Erfolg hatte. Die
meisten Käufer dieser ungewöhnlichen Objekte konnten es kaum fassen, aber sie
hatten Immobilien erworben, die zu den begehrtesten in Nordengland gehörten.
»Und ich bin Grafikerin«, sagte Kathy, als sie mit einem offenen Laptop
zurückkam.
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