McDermid, Val
»So sind wir hierhergekommen. Ich habe die ursprünglichen Broschüren
für das Ville entworfen, deshalb wusste ich, dass es eine gute Idee war, sich
vor dem Ansturm der Massen hier einzukaufen.« Sie drehte den Laptop so, dass Carol
das Brustbild eines lächelnden dunkelhaarigen Jungen sehen konnte, das den
ganzen Bildschirm ausfüllte. Er hatte die olivbraune Haut seiner Mutter und
dunkle Augen. Sein Haar war lang, lässig auf einer Seite gescheitelt und fiel
halb über ein Auge herab. Ein paar Pickel auf dem Kinn, ein angeschlagener
Vorderzahn und eine leicht schiefe Nase vervollständigten die kleine Skizze,
die Carol bereits im Kopf anfertigte. »Das wurde am Sonntag aufgenommen.«
»Wäre es möglich, es per
E-Mail an mein Team zu schicken? Das ist wahrscheinlich der schnellste Weg, es
dorthin zu bringen.« Carol suchte schon in ihrer Tasche nach einer Visitenkarte.
»Kein Problem«, meinte Kathy,
stellte den Laptop auf einen Beistelltisch und fuhr mit dem Finger über das
Touchpad. Carol reichte ihr ihre Karte, auf der auch die allgemeine
E-Mail-Adresse ihrer Ermittlergruppe stand. Sie warteten alle, bis Kathy den Upload
gestartet hatte. »Schon erledigt«, sagte sie und kehrte zu ihrer Partnerin auf
dem Sessel zurück. Carol kam es vor, als ruhe Seths Blick auf ihr, und sie
hoffte, dass der Bildschirmschoner sich bald einschalten würde. »DCI Jordan hat
mich gefragt, wann wir Seth zuletzt gesehen haben«, berichtete Julia und
umschloss Kathys Hand. »Nachdem Julia zur Arbeit aufgebrochen war, begleitete
ich Seth zur Bushaltestelle. Normalerweise geht er allein zur Schule. Es sind
nur drei Minuten zu Fuß zum Bus. Aber wir hatten nicht mehr viel Brot, deshalb
beschloss ich, schnell im Supermarkt einzukaufen. Also gingen wir zusammen los.
Der Bus kam fast sofort, als wir die Haltestelle erreichten, und ich winkte ihm
zum Abschied zu. Das muss ungefähr zwanzig vor neun gewesen sein. Er hatte
schon verabredet, dass er bei seinem Freund Will übernachten würde, und hatte
eine saubere Hose, Socken und Hemd dabei.«
»Und soweit Sie wissen, war er
den ganzen Tag in der Schule?«
»Als er heute nicht wie sonst
nach Haus kam, rief ich die Schule an«, antwortete Kathy. »Man sagte mir, er
sei heute gar nicht da gewesen. Also fragte ich wegen gestern. Da war er in
allen Fächern da. Ich gebe zu, dass ich mich gefragt hab, ob er sich vielleicht
mit seiner Freundin fortgeschlichen hatte und Will ihn deckte. Aber beiden
sieht so etwas nicht ähnlich, verstehen Sie? Das sind einfach keine wilden
Jungs. Aber man fragt sich das doch, oder?«
»Das ist nur natürlich. Wir
waren schließlich alle mal Teenager«, entgegnete Carol. »Ich hab jedenfalls
meinen Eltern nicht alles erzählt, was ich vorhatte.«
»Deshalb fragte ich auch Will
und Lucie, seine Freundin. Dabei habe ich herausgefunden, dass er nicht bei
Will übernachtet hat und auch überhaupt nicht dort gewesen war. Will sagte,
Seth hätte ihm gestern Vormittag erklärt, er wolle es verschieben, er hätte
andere Pläne.«
»Und Will hat ihn nicht
gefragt, was das für andere Pläne waren?«
Kathy zog die Augenbrauen
zusammen. »Er hat es jedenfalls mir nicht gesagt. Vielleicht wäre er aber ein
bisschen offener zu jemandem, der einen offiziellen Grund zum Fragen hat.«
»Das ist nicht fair, Kathy«,
widersprach Julia. »Du hast keinen Grund zu glauben, dass Will dir nicht alles
gesagt hat, was er weiß.«
Kathy verdrehte die Augen. »Du
bist so vertrauensselig. Wenn Seth von ihm verlangt hat, er solle nichts
verraten, wird er es mir nicht sagen, oder?«
Carol wartete, bis sich die
Situation beruhigt hatte, und fragte dann: »Haben Sie irgendetwas von Seth
gehört, seit er gestern Morgen wegging? Eine SMS? Eine E-Mail? Ein Anruf?« Die
beiden Frauen sahen sich an und schüttelten gleichzeitig den Kopf.
»Nichts«, antwortete Kathy. »Nicht
dass das ungewöhnlich wäre. Er meldet sich gewöhnlich nur, wenn es einen Grund
gibt. Zum Beispiel, wenn sich etwas ändert, was wir vereinbart haben. Was er
dieses Mal aber nicht getan hat.« Kevin räusperte sich. »Ist seine Freundin zu
Hause?«
»Ja. Ich habe mit ihr übers
Festnetz bei ihr zu Hause gesprochen«, berichtete Kathy. »Sie hat ihn zum
letzten Mal gestern Mittag gesehen. Sie haben zusammen in der Schulkantine gegessen,
sie sind in verschiedenen Klassen und sehen sich im Unterricht nicht. Aber er
hat Lucie nichts davon erzählt, dass er nicht zu Will gehen wollte. Sie glaubte
noch an die geplante
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