McDermid, Val
Oder?«
15
Carol wusste nicht, wie oft
sie schon in einem Saal der Pathologie gestanden und einen Gerichtsmediziner
bei seiner hochpräzisen und gruseligen Arbeit beobachtet hatte. Aber sie war
nie abgestumpft gegen diese Mitgefühl erregende Prozedur. Es erfüllte sie immer
noch mit Trauer, ein menschliches Wesen auf seine Einzelteile reduziert zu
sehen. Das Gefühl wurde jedoch stets im Zaum gehalten durch den Wunsch,
denjenigen der gerechten Strafe zuzuführen, der dafür verantwortlich war, dass
die Leiche an diesem Ort lag. Wenn etwas Carols Streben nach Gerechtigkeit zu
stärken vermochte, dann war es eher das Leichenschauhaus als der Tatort. Heute
hatte ein Pathologe Dienst, mit dem sie Freundschaft geschlossen hatte. Dr.
Grisha Shatalov leitete seine Abteilung am Bradfield Cross Hospital mit einer
paradoxen Mischung aus weißrussischer autoritärer Strenge und kanadischer Mäßigung,
was auf seine gemischte Abstammung zurückging. Er glaubte, dass die Toten den
gleichen Respekt verdient hatten wie die lebenden Patienten, deren Gewebeproben
er unter dem Mikroskop untersuchte, aber das hieß nicht, dass man mit kalter
Förmlichkeit vorgehen musste. Von Anfang an hatte er Carol an seiner Welt
teilhaben lassen und ihr das Gefühl gegeben, zu einem Team zu gehören, dessen
Ziel es war, Geheimnissen auf die Spur zu kommen.
Im Lauf der letzten Wochen war
Grisha genauso blass geworden wie seine Leichen. Lange Arbeitszeiten in
Kombination mit einem Säugling zu Hause hatten seine Haut grau werden lassen,
und um seine schmalen, etwas schräg stehenden Augen zeichneten sich dunkle Ringe
ab, als trüge er die gleiche Banditenmaske wie ein Waschbär. Aber heute hatte
er wieder Farbe und schien fast gesund und fit. »Sie sehen gut aus«, stellte Carol
fest, als sie sich neben dem Seziertisch an die Wand lehnte. »Waren Sie im
Urlaub?«
»Ich fühle mich, als hätte ich
Ferien gehabt. Endlich hat meine Tochter gelernt, länger als drei Stunden am
Stück zu schlafen.« Er lächelte ihr zu. »Ich hatte vergessen, wie wunderbar es
ist, aufzuwachen, ohne geweckt zu werden.« Während er sprach, streckte er automatisch
die Hand zu dem Tablett neben sich aus und wählte das erste einer ganzen Reihe
von Instrumenten, die ihren wissbegierigen Blicken das zeigen würden, was von
Daniel Morrison noch da war. Carol ließ ihre Gedanken schweifen, während Grisha
arbeitete. Sie brauchte nicht genau aufzupassen; er würde sie schon auf das
aufmerksam machen, was sie zur Kenntnis nehmen musste. Ihr Team arbeitete mit
dem Bezirk Nord zusammen, um sicherzugehen, dass alle routinemäßigen Schritte
der Ermittlung ordnungsgemäß durchgeführt wurden. Vielleicht würde schon bei
den ersten Vernehmungen und Befragungen etwas auffallen. Staceys geniale
Computerkünste konnten vielleicht einen Zipfel zutage fördern, an dem sie
ansetzen konnten. Aber das würde nur passieren, wenn sie Glück hatten.
Ansonsten konnten sie wenig tun, bis erste Informationsstückchen da waren, die
sie untersuchen konnten, um zu sehen, ob sich nicht etwas finden ließ, das
nicht recht zusammenpasste. Im Voraus ließ sich nie ahnen, was genau es sein
würde. Es gab dafür keine Richtlinien, keine Vorbildung, keine Checkliste. Man
musste mit einer Mischung aus Erfahrung und Instinkt arbeiten. Es war eine
undefinierbare Eigenschaft, die jeder ihrer Mitarbeiter besaß, und einer der
Hauptgründe, warum sie überhaupt ihrer Ermittlergruppe angehörten. Bei jedem
waren die Antennen für unterschiedliche Bereiche sensibilisiert, und zusammen
waren sie mehr als die Summe aller Teile. Was für eine verdammte Verschwendung
es wäre, wenn Blake seinen Willen bekäme und sie in alle vier Winde verstreut
würden.
Sie war so in ihre eigenen
Gedanken vertieft, dass die ganze Obduktion regelrecht an ihr vorbeirauschte.
Sie konnte es kaum glauben, als Grisha sie in sein Büro bat, um die wichtigsten
Punkte noch einmal zu besprechen. »Noch einmal?«, fragte sie, als sie ihm
folgte und einen Blick auf die Leiche auf dem Tisch warf. Ein Assistent schloss
die langen Einschnitte, mit denen Grisha Daniels Brustkorb geöffnet hatte.
Wann immer es möglich war, bediente er sich einer minimal-invasiven Technik und
vermied den Y-förmigen Einschnitt, der jeden wie ein Opfer Frankensteins
aussehen ließ. Aber wenn es um ein Mordopfer ging, war diese Methode ungeeignet.
Unwillkürlich schaudernd wünschte Carol, es wäre möglich.
»Die minimalinvasive Methode
macht die Sache
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