McDermid, Val
frei zu machen, der
ihm genau die erfinderischen Ideenassoziationen lieferte, die ihn zu einem so
leistungsfähigen Profiler machten. Es gab einen Grund dafür, dass Jennifer
Maidment so gestorben war. Und Tony hatte das Gefühl, dass er ihm näher kam.
20
Paula wusste, dass sie die
beste Vernehmerin des Teams war. Aber trotzdem fühlte sie sich unbehaglich,
wenn sie mit Mädchen im Teenageralter zu tun hatte. Ihre eigene Jugend war so
untypisch gewesen, dass sie immer meinte, es gäbe keine Gemeinsamkeiten, auf
die sie bauen konnte. Es war die reine Ironie, dachte sie. Sie konnte einen
Ansatzpunkt finden, um gewalttätige Sexualstraftäter, Pädophile und abgestumpfte
Menschenhändler zu erreichen. Aber wenn es um junge Mädchen ging, war sie
ratlos.
Leider hatte sie keine andere
Wahl. Carol Jordan war gerade rechtzeitig im Bradfield Cross angekommen, um
einen gestressten Angestellten der Notaufnahme anzutreffen, der Mike Morrison
die Nachricht überbringen musste, dass seine Frau nicht überlebt hatte. Es war
nicht überraschend, dass der arme Mann wie eine verlorene Seele aussah. Nachdem
ihm ohne Vorwarnung seine Frau und sein Sohn entrissen worden waren, verloren
sich die Eckpfeiler seines Lebens im Nebel. Gott sei Dank hatte die Chefin sich
der Sache angenommen und war in die Bresche gesprungen. Sie schickte Paula weg
mit der undankbaren Aufgabe, Informationen aus Seth Viners Freundin
herauszubekommen.
Aber sie sollte doch nicht allzu
deprimiert sein. Schließlich hatte sie eine Tasse Kaffee mit Elinor Blessing getrunken,
die versprochen hatte, dass sie bald zusammen eine Kleinigkeit essen würden.
Und es schien, dass Paulas Interesse nicht ganz einseitig war. Aber es war so
ein Klischee. Polizisten, Arzte und Krankenschwestern schlossen sich immer
zusammen. Zum Teil lag es wohl daran, dass nur jemand, der in seinem eigenen
Berufsleben einem ähnlichen Wahnsinn unterworfen war, für die irrsinnigen
Anforderungen der Arbeit des anderen Verständnis hatte. Andererseits war es
so, weil man außer solchen Menschen kaum jemanden traf, der nicht Verbrecher,
Opfer oder Patient war. Und vielleicht hing es auch mit der Tatsache zusammen,
dass viele bei der Polizei oder im Gesundheitswesen arbeiteten, die den
Menschen wirklich helfen wollten, was ihnen eine gewisse gemeinsame Basis gab.
Was immer der Grund sein mochte, Paula hoffte jedenfalls, dass diese Übereinstimmung
ihr und Elinor helfen würde. Es war schon lange her, seit sie eine Beziehung
gehabt hatte. Und erst in letzter Zeit hatte sie daran gedacht, dass sie mit
ihren eigenen Problemen weit genug sein könnte, um wieder jemanden an sich
heranzulassen.
»Also, dann los«, murmelte sie
leise, als sie den kurzen Weg vom Gehsteig zu Lucie Jacobsons Haus hinaufging.
Ein Reihenhaus aus Backstein, eine Kategorie besser als die einfachste
Variante ohne Garten. Diese Häuser waren einstöckig, und zwischen jedem zweiten
lief ein Weg vom Vorgarten zum Garten hinter dem Haus, so dass sie fast wie
Doppelhäuser wirkten. Das Haus der Jacobsons verfügte über einen Windfang, der
kaum größer als ein Schrank war. Eine Seite war ganz ausgefüllt mit etwas, das
in der Dunkelheit wie aneinandergedrängte Menschen aussah. Als Paula klingelte,
wurde das Licht angeschaltet, und die Schatten entpuppten sich als Mäntel und
Regenjacken, Baseballmützen und Fahrradhelme. Paula hielt ihren Ausweis hoch,
und die Frau, die an der Tür erschienen war, nickte und machte auf.
»Ich habe jemanden von eurer
Truppe erwartet«, meinte sie mit schicksalsergebener Freundlichkeit, die Paula
nicht allzu oft antraf. »Sie kommen bestimmt wegen Seth. Kommen Sie rein.« Sie
führte Paula in ein enges Wohnzimmer, wo alles, was man unbedingt brauchte,
seinen Platz gefunden hatte. Es war so zweckmäßig eingerichtet wie eine
Schiffskabine, mit Regalen und Schränken voller Bücher, Videos, CDs, Schallplatten
und Ablageboxen, die sauber mit Aufschriften wie »Stadtwerke«, »Bank« und
»Steuer« gekennzeichnet waren. Zwei nicht zueinander passende Sofas und ein paar
Sessel nahmen den restlichen Platz vor einem klotzigen Fernseher ein, an den
die übliche Sammlung von Zusatzgeräten angeschlossen war. »Nehmen Sie Platz«,
sagte sie. »Ich hole Lucie. Ihre Brüder sind mit ihrem Dad unterwegs, sie
spielen Basketball, da haben wir ein bisschen Ruhe. Es sind Zwillinge,
sechzehn. Sie nehmen unheimlich viel Platz weg.« Sie schüttelte den Kopf und
ging auf die Tür zu. »Lucie«, rief sie.
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