McDermid, Val
»Hier ist jemand, der mit dir über Seth
sprechen möchte.« An den Türrahmen gelehnt, wandte sie sich wieder dem Raum zu.
»Ich bin übrigens Sarah Jacobson. Ich hab schon mit Kathy und Julia
gesprochen. Sie machen sich große Sorgen.« Sie seufzte und fuhr sich durch die
kurzen dunklen Locken. »Wer täte das nicht? Mein Gott, es ist sowieso schon
schwer genug, die Pubertät zu überstehen, ohne so einen Alptraum zu erleben.«
Schritte polterten die Treppe hinter ihr hinab, und sie trat zurück, um ihre
Tochter durchzulassen. Lucie Jacobson hatte die gleichen Haare, aber in ihrem
Fall fielen sie als erstaunliche Lockenpracht über die Schultern herab. Ihr Gesicht
mit den scharfen Zügen schaute schmal zwischen den Haaren hervor, und die
tiefblauen Augen wurden betont durch kräftige schwarze Lidstriche. Sie war
auffällig, nicht hübsch, aber Paula vermutete, dass sie sich zu einer Schönheit
entwickeln würde. Schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt vervollständigten
die nette Mittelklasseversion des Looks für Junggruftis.
»Gibt's was Neues?«, fragte
sie und starrte Paula an, als sei sie persönlich verantwortlich für Seths
Verschwinden. »Tut mir leid. Es gibt kein Lebenszeichen von Seth.« Paula stand
auf. »Ich bin Paula Mclntyre, Detective Constable. Ich gehöre zu dem Team, das
beauftragt wurde, ihn zu finden.«
»Nur ein Constable? Sind Sie
wichtig genug, um das zu machen? Weil, es ist nämlich wirklich wichtig, dass
jemand Seth findet«, maulte Lucie, als sie hereinkam und sich auf ein Paula
gegenüber stehendes Sofa warf.
»Lucie, um Himmels willen«,
seufzte ihre Mutter. »Damit kannst du niemanden beeindrucken.« Sie warf Paula
einen Blick zu. »Tee? Kaffee?«
»Für mich nicht, danke.«
Sarah Jacobson nickte. »Ich
bin in der Küche, falls Sie mich brauchen.« Sie warf ihrer Tochter einen
strengen Blick zu. »Ich lasse dich allein mit Ms. Mclntyre, damit du sagen
kannst, was du sagen musst, ohne dich zu sorgen, was ich davon halte. Okay?«
Dann ging sie.
»Als ob mich das interessieren
würde, was sie über irgendwas denkt.«
»Natürlich tust du das nicht.
Du bist ja ein Teenager«, kommentierte Paula trocken. Sie entschied sofort,
diese Kleine nicht mit Samthandschuhen anzufassen. »Es ist so: Im Moment ist
mir wirklich alles egal, außer dass wir Seth finden. Wenn du also irgendwelche
Geheimnisse in der Hinterhand hast, von denen du denkst, dass sie euch in
Schwierigkeiten bringen könnten - dann ist es Zeit, sie auszuspucken. Wenn du
uns hilfst, Seth zu finden, werden deine schmuddeligen Schandtaten und Laster
vergessen sein. Drogen, Alkohol oder Sex sind mir egal, okay? Ich will nur
herausfinden, was du weißt und was uns helfen könnte, Seth zu finden.« Sie
parierte Lucies trotzigen Blick und zwang ihn nieder. »Was immer ihr beiden
getrieben habt, du kannst wetten, dass ich so was schon gehört, gesehen oder
selbst getan habe.« Lucie seufzte und verdrehte die Augen. »Als ob das was damit
zu tun hätte. Wir machen nichts, was auch nur entfernt damit zu tun hat, dass
Seth nicht hier ist, okay? Er und ich, da ist alles in Ordnung. Was Sie wissen
müssen, ist, dass - ja, Seth hat ein Geheimnis.«
Paula versuchte, nicht zu
zeigen, wie sehr Lucies Worte ihre Aufmerksamkeit erregt hatten. »Und du weißt,
was es ist?«
»Natürlich. Er gehört zu mir,
und ich gehöre zu ihm.«
»Was ist das für ein
Geheimnis?«
Lucie musterte sie von oben
bis unten, als treffe sie eine Entscheidung. »Sie sind Lesbe? Wie Seths
Müller?«
»Um dich selbst zu zitieren:
>Als ob das irgendwas damit zu tun hätte<«, parierte Paula.
»Sind Sie also.« Lucie
lächelte, als hätte sie sich einen Punkt gesichert. »Das ist in Ordnung. Wir
vertrauen Leuten nicht, die sich ganz dem Mainstream anpassen«, verkündete sie.
»Ich würde Ihnen nicht trauen, wenn Sie keine Lesbe wären. Sie brauchen etwas,
um damit den Polizistenjob auszugleichen.« Paula fiel es schwer, sich einen
schnippischen Kommentar zu verkneifen, aber sie hielt sich zurück. »Du musst
mir von Seths Geheimnis erzählen.«
Lucie drehte und wand sich auf
der weichen Polsterung. »Is keine große Sache. Eigentlich.«
»Dann sag's mir.«
»Er schreibt Songs.
Hauptsächlich Texte, aber manchmal auch alles. Die Musik und so.«
Es schien seltsam, sich für so
etwas zu schämen. »Und das war ein Geheimnis?«
»Also, ja. Ich meine, es ist
ja fast schon wie Gedichte schreiben, um Gottes willen. Und das ist ja so was
von ätzend.«
»Okay.
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