McDermid, Val
nichts
Faszinierenderes gab als das, was er beruflich machte und wie er vorging, gab
es jede Menge Spielraum, um Ambroses Neugier zu befriedigen. Er legte also
los. »Das Herangehen besteht aus zwei Teilen, würde ich sagen. Der erste Teil
ist eine Art umgekehrter Logik - statt mit Hilfe von Ursache und Wirkung zu
schlussfolgern, schlage ich die andere Richtung ein. Ich fange mit dem Opfer
an. Ich mache mir ein Bild davon, wer das Opfer ist und was es in seinem Leben
gegeben hat, das für den Verfolger attraktiv gewesen sein könnte. Dann schaue
ich mir an, was ihm genommen wurde. Sein Leben, natürlich. Aber auch die
anderen Aspekte. Seine Individualität. Sein Geschlecht. Seine Macht. Solche
Dinge. Und schließlich betrachte ich das, was ihm angetan wurde. Was der Mörder
wirklich mit ihm gemacht hat und in welcher Reihenfolge. Und wenn ich all dies
in mich aufgenommen habe, fange ich an rückwärtszugehen. Ich stelle mir Fragen.
Wenn ich der Killer wäre, was würde es mir bringen? Was bedeuten mir diese
Handlungen? Was bringt mir das Ganze? Warum ist es mir wichtig, dass ich diese
Handlungen in genau dieser Reihenfolge ausführe? Dann gehe ich noch weiter
zurück. Was ist mit mir in der Vergangenheit passiert, das dieser Tat Bedeutung
gibt? Und in diesem Stadium bin ich hoffentlich schon ein gutes Stück auf dem
Weg vorangekommen bei der Ergründung der Vorgänge im Kopf des Mörders.« Seine
Hände zeichneten Muster in die Luft, eine greifbare Darstellung der Drehungen
und Wendungen, die in seinem Kopf abliefen. »Und dann überdenke ich die
Wahrscheinlichkeiten. Was für ein Leben ist möglich für eine Person mit dieser
Art von Vergangenheit? Welche Auswirkung hatte seine Beschädigung auf sein
Leben? Was für Beziehungen sind für ihn möglich?« Tony breitete die Hände aus
und zuckte mit den Schultern. »Es ist natürlich keine exakte Wissenschaft. Und
jeder Fall wirft neue Fragen auf.«
Ambrose seufzte.
»Faszinierend. Aber das habe ich eigentlich nicht gemeint. Meine Frage war, wie
Sie Ihr Profil präsentieren. Auf Papier oder persönlich?«
»Oh.« Tony wusste, Ambroses
Reaktion hätte ihm eigentlich den Wind aus den Segeln nehmen sollen, aber er
war durchaus nicht verlegen. Eins, worum er die normale Welt nicht beneidete,
war ihr deprimierender Mangel an Neugier, so sah er das. Seiner Meinung nach
hätte Ambrose sich über seine Ausführungen freuen sollen. Aber wenn er nur
diese nüchterne Auskunft wollte, konnte Tony auch damit dienen. »Meistens
schreibe ich alles auf dem Laptop zusammen und schicke es dann an den
Ermittlungsleiter. Wenn er weitere Klarstellung wünscht, gehe ich mit ihm jeden
Punkt durch, zu dem es Fragen gibt. Aber ich bin noch nicht ganz so weit, das
Profil zu erstellen. Ich kann mir Jennifer noch nicht gut genug vorstellen.
Ich möchte wirklich mit ihrer besten Freundin sprechen, mit Claire Soundso.«
»Darsie. Claire Darsie.«
»Ja, natürlich, tut mir leid.«
»Da fahren wir jetzt hin«,
sagte Ambrose. »Ich habe mit der Schule abgeklärt, dass sie dem Unterricht
fernbleiben und mit Ihnen sprechen kann. Sie können auf dem Schulgelände spazieren
gehen oder eine stille Ecke suchen, wo Sie sich hinsetzen können.«
»Sehr gut. Vielen Dank.«
»Was können Sie mir vorab
sagen? Über Ihre Vermutungen?«
»Nicht viel. Weil ich zu
diesem Zeitpunkt nicht sehr viel Konkretes vermute.« Es gab aber eine Sache,
die er klarstellen musste, und sie widersprach jedem Gespür, so dass Tony
wusste, er musste Vorarbeit leisten. »Ich glaube, dass dieser Fall nicht so
einfach liegt, wie wir zuerst dachten, und ich frage mich, ob das absichtlich oder
zufällig so ist.«
»Wie meinen Sie das?«
Tony verzog das Gesicht. »Ich
bin nicht überzeugt, dass es um einen Sexualmord geht.«
»Kein Sexualmord?« Ambrose
konnte das nicht glauben. »Er hat sie ja praktisch mit dem Messer vergewaltigt.
Wie kann das nicht sexuell sein?«
»Sehen Sie, genau das meine
ich. Ich bin noch nicht bereit, ein vollständiges Profil zu erstellen. Noch
habe ich nicht genug zusammen und bin nicht ausreichend vorbereitet. Aber haben
Sie einen Moment Geduld mit mir. Nehmen wir mal an - nur der Hypothese zuliebe
-, es ginge nicht um sexuelle Befriedigung.« Er sah Ambrose erwartungsvoll an,
der erneut seufzte.
»Okay. Es geht nicht um
sexuelle Befriedigung. Nur um das mal durchzuspielen.«
»Aber er hat ihre Vagina
zerschnitten, hat das Messer wirklich tief in sie hineingestoßen. Wie Sie
schon sagten, er ließ
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