Meade Glenn
in einer Ecke. Sie öffnete das Fenster, woraufhin die salzhaltige Luft in die Räume drang.
Dann stiegen sie die Treppe hinauf. Collins half ihr, die anderen Fenster zu öffnen. Das Schlafzimmer war ausgeräumt. Nikki hatte die Wände in einem blassen, verwaschenen Aprikot gestrichen, was dem Raum eine weibliche Note verlieh. Von hier aus hatte man einen schönen Blick aufs ruhige Wasser in der Bucht, in dem sich die Sonne spiegelte.
»In ein paar Wochen müsste alles fertig sein. Ich muss Daniel immer bei meiner Mutter lassen, wenn ich hier arbeite, sonst käme ich überhaupt nicht voran. Ich müsste ständig aufpassen, dass er nicht in die Farbeimer fällt oder sie umwirft.« Nikki genoss die Aussicht und atmete tief ein. »Und, wie findest du es?«
»Du hast gute Arbeit geleistet. Man sieht, dass es dir hier gefällt. Sei nicht böse, aber unten sieht es aus, als hätte sich hier Kapitän Ahab aufgehalten, bevor er Moby Dick gejagt hat.«
Sie lächelte und drückte zärtlich seinen Arm. »Komm, so schlimm ist es auch wieder nicht. Ich bin heilfroh, wenn alles fertig ist. Noch ein bisschen Farbe, und es sieht aus wie früher, als ich klein war.« Sie verschränkte die Arme, als wolle sie sich vor dem kühlen Wind schützen. »Immer, wenn ich hierher komme, wünsche ich mir die alten Zeiten zurück. Es ist so ein schönes altes Haus, Jack, und es birgt so viele schöne Erinnerungen. Ich würde sie gerne mit dir teilen.«
Collins sah die Sehnsucht in ihrem Blick, und ihm entging nicht ihre erregte Stimme, wenn sie von früher erzählte. Er schaute auf die Bucht. Auch ihn verbanden mit diesem Ort Erinnerungen. Er war oft mit Sean hierher gefahren, als der noch ein Kind gewesen war. Manchmal hatte Annie sie begleitet, und manchmal waren sie beide allein gefahren. Die Stelle am Strand, wo die hohen Sanddünen standen, war immer der Lieblingsplatz der ganzen Familie gewesen.
An jenem schrecklichen Tag, als er erfahren hatte, dass Sean auf der USS Cole getötet worden war, hatte er sich hinters Lenkrad gesetzt und war allein nach Chesapeake gefahren. Die unendliche Trauer hatte seine Sinne betäubt. Er hatte den Wagen abgestellt, war an den Klippen entlanggelaufen und dem Pfad gefolgt, der an den Strand führte, an dem er oft mit Sean herumgelaufen war oder gespielt hatte. An jenem Tag war der Strand menschenleer. Dichter Nebel lag über der Bucht, und er lief wie benommen am Ufer entlang. Alles erinnerte ihn an seinen Sohn, an den kleinen Jungen mit dem schmalen Gesicht, der strahlte, wenn er eine interessante Entdeckung machte. Eine Sandkrabbe oder eine Muschel können für ein vierjähriges Kind von immenser Bedeutung sein.
Angetrieben von seiner unendlichen Trauer, war er an jenem Tag Stunde um Stunde und Kilometer um Kilometer wie ein Verrückter durch den Sand gelaufen, während ihn die Erinnerungen quälten und er sich vollkommen in der Vergangenheit verlor. Sean war ganz in der Nähe. Sein Kichern drang durch den Nebel, als sie Verstecken spielten und er weglief, um sich zu verstecken. Dann sein lautes Lachen, als er entdeckt wurde.
Nikki strich ihm über den Arm. »Alles in Ordnung, Jack?«
»Sicher«, lo g er, wobei er einen so großen Schmerz in der Brust spürte, als hätte ihm jemand eine Spritze mitten ins Herz gestoßen. Als er Nikkis besorgte Miene sah, hätte er sich von Herzen gewünscht, seine Erinnerungen mit ihr zu teilen. Doch diese Erinnerungen waren zu kostbar, um sie je mit jemandem teilen zu können.
»Du wirkst betrübt.«
Er lächelte sie verhalten an und antwortete ihr in freundlichem Ton. »Was soll ich sagen? Ich habe irgendwie das Gefühl, dass noch mehr dahinter steckt, Nikki. Kann ich dir vielleicht helfen?«
Sie errötete leicht. »Bringt man euch in Quantico auch bei, wie man Gedanken liest?«
»Die Gedanken einer Frau? Wo denkst du hin! Das gehört zu den großen, unergründlichen Geheimnissen des Lebens.«
Sie lachte, hakte sich bei ihm ein und küsste ihn auf die Wange. »In Chesapeake Beach ist ein gutes Restaurant. Was hältst du davon, wenn wir hier abschließen und dorthin fahren?«
Washington, D.C.
13.05 Uhr
Das zweistöckige Backsteinhaus lag südwestlich des Suitland Parkways und war keine acht Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Das Gebäude hätte einem Immobilienmakler böse Albträume bereitet. Einige der Fenster waren zersplittert und mit Holzbrettern vernagelt. Der Rasen war hoch gewachsen, das Dach undicht, und das Innere musste dringend gestrichen
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