Meade Glenn
hing.
Der Mann wollte respektvoll aufstehen, aber Grinzinger bedeutete ihm mit einer Handbewegung, sitzenzubleiben. Er ging durch die Küche zur Hintertür, öffnete sie leise und trat hinaus.
Der Garten war weiß von Schnee, die Luft frisch und kalt. Die kahlen Zweige der Apfel- und Birnbäume am Ende des Gartens waren mit Schnee bedeckt. Im Haus war es gespenstisch ruhig.
Seine Frau war mit beiden Töchtern über Weihnachten zu ihrer Mutter an den Bodensee gefahren, und sogar die Hausangestellten hatten Urlaub. Grinzingers Stirn glühte, und nervös zündete er sich die nächste Zigarette an.
Es hatte aufgehört zu schneien, aber wenn man der Wettervorhersage trauen konnte, nur vorübergehend. Die kalte Luft hatte einen beruhigenden Effekt auf Grinzinger. Genau das, was er jetzt brauchte. Ruhe. Was Molke ihm gesagt hatte, wühlte ihn zutiefst auf.
Er stand da, dachte über die Situation nach und tupfte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.
Achtundzwanzig Jahre war er jetzt im Staatsdienst. Und in all der Zeit hatte er sich noch nie einer Entscheidung von dieser Tragweite gegenübergesehen. Er starrte auf die Seiten in seiner Hand, deren Schrift er in dem kalten Flutlicht, das aus Sicherheitsgründen an der Rückseite des Hauses angebracht war, deutlich entziffern konnte. Was Molke sagte, stimmte. Es gab tatsächlich eine Liste mit regierungstreuen Beamten. Man konnte sie im Notfall schnellstens aktivieren. Sie würden alle größeren Städte und sämtliche Flug-, Fluß- und Seehäfen kontrollieren.
Er überlegte, ein Telefonat zu führen, um sich Rat zu holen, entschied sich jedoch dagegen. Er war auf sich allein gestellt. Es war seine Entscheidung, die Angelegenheit zu beschleunigen.
Und jede Verzögerung würde auf seinen Schultern lasten.
Er mußte seine Vorgesetzten dringendst informieren. Aber natürlich würde er das meiste davon unterdrücken. Wenn er es geschickt anfaßte, bot sich hier eine großartige Gelegenheit.
Aber wie sollte er es angehen? Wie sollte er das Problem lösen? Seine Gedanken überschlugen sich, während er fieberhaft nachdachte, ohne dabei zu vergessen, wie die Minuten verrannen.
Drei Minuten später war ihm klar, wie er vorgehen mußte. Der Schweiß rann ihm in Strömen von der Stirn. Er tupfte sie sich ab und steckte das Taschentuch wieder in die Brusttasche. Er ging hinein, schloß die Tür hinter sich, vergaß aber, sich die Schuhe abzustreifen, durchquerte die Küche und folgte dem Flur.
Diesmal stand der Polizist nicht auf, sondern nickte nur respektvoll und las weiter in seiner Zeitung. Nächtliche Besucher waren in Grinzingers Haushalt nichts Ungewohntes.
Grinzinger betrachtete kurz das Porträt seines Vaters. Der Mann im blauen Anzug stand kerzengerade da. Hinter ihm sah man in der Entfernung das Rathaus von München. Die Staats-und die Bundesflagge flatterten über dem Glockenturm. Er war bis ins Mark ein loyaler Bayer gewesen. Das paßt merkwürdig ins Bild, dachte Grinzinger. Sein Vater war seit fünfundzwanzig Jahren tot. Die blauen Augen des porträtierten Politikers starrten vom Bild auf seinen Sohn herunter. Was der jetzt vorhatte, konnte ihn ruinieren, wenn es schiefging. Und es nagten schon Zweifel in ihm. Aber er wußte, daß er weitermachen mußte.
Seine Zukunft konnte davon abhängen. Und die Zukunft seines Vaterlandes.
Die Augen seines Vaters sahen genauso aus, wie er sie auch leibhaftig erinnerte. Blau, aufrichtig, treu. Ein fanatischer Diener von Staat und Vaterland. Nur der blaue, dreiteilige Anzug paßte nicht so recht ins Bild.
Was noch fehlte, um das Gemälde perfekt zu machen –
Grinzinger dachte an die alten Fotos, die er seit seiner Kindheit verwahrte, und den Siegelring, den sein Vater ihm geschenkt hatte –, was noch fehlte, war die schwarze Uniform der Leibstandarte ›Adolf Hitler‹.
Molke drehte sich herum, als Grinzinger wieder in die Bibliothek kam und die Tür hinter sich schloß. »Hast du dich entschieden?« fragte er, nachdem der Mann sich wieder hinter seinen Schreibtisch gesetzt hatte.
»Ja.«
»Und wie?«
»Ich möchte zunächst einige Dinge mit dir besprechen.«
Molke sah, wie Grinzinger langsam in die Schublade griff.
Sekunden später hielt er eine Walther in der Hand, deren todbringende Mündung auf Molke gerichtet war.
Molke wollte sprechen, aber kein Wort kam über seine Lippen.
»Ich möchte, daß du mir genau zuhörst, Molke. Was ich dir in den nächsten Minuten sage, entscheidet
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