Mehr als ein Sommer
gestanden hatte, und kletterte darauf. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um nach draußen sehen zu können. Der Duft tropischer Blumen, deren Namen sie nicht kannte, stieg ihr in die Nase, und sie lauschte dem Ruf des Muezzins, der durch die Fenstergitter schallte. Draußen hing der Mond wie ein silberner Krummsäbel am tiefschwarzen Himmel, der sich über die Wüste und jenseits der Gebäude erstreckte, und in der Ferne, erhellt von den Lichtern Kairos, ein glitzerndes Dach über der Stadt bildete. Unten auf der Straße waren die Menschen im schwächlich gelben Schein der Straßenbeleuchtung auf dem Weg zur Moschee. Der eindringliche Sprechgesang zog sie wie Bienen zum Honig, dem Honig ihres Lebens, ihrer Religion. Obwohl sie ihre Hingabe bewunderte, war sie nie willig gewesen, sich irgendeiner Religion mit ganzem Herzen zu ergeben. Donald hatte darauf bestanden, dass sie jeden Sonntag mit den Kindern in die Kirche gingen, aber unter der Woche war er gewalttätig. Es fühlte sich so scheinheilig an, im Alltag ein Leben zu leben, als spiele Religion keine Rolle. Sie wünschte, Tommy wäre hier mit seiner eigenen, so besonderen Religion, seiner Leidenschaft für das Leben. Sie hatte niemals jemanden gekannt, der das Leben mehr geliebt hatte, nicht einmal Martin.
Trevor wälzte sich in seinem Bett. Sie hatte ihn nicht wecken wollen, um diesen Augenblick ganz für sich allein zu haben. »Constance?«, murmelte er mit verschlafener Stimme. Sie antwortete nicht, hoffte, er würde wieder einschlafen. Doch stattdessen hörte sie, wie er auf dem Tisch neben seinem Bett nach irgendetwas tastete — seiner Brille vielleicht das schließlich mit einem klappernden Geräusch zu Boden fiel. Während er über die Fliesen auf ihr Bett zustolperte, murmelte er etwas von »beschissenen Träumen«. Mit größtem Bedauern stellte sie sich vor, dass er gleich ihre Perücke finden würde, die am Bettpfosten hing. Sie legte sich die Hand auf den Kopf, als er über den Boden in ihre Richtung taumelte; seine Kleidung war ganz zerknittert. Sie musste zum Fürchten aussehen in dem weißen Nachthemd, das im Mondlicht erstrahlte wie das Gewand eines Gespensts. Mit der freien Hand umklammerte sie das Fenstergitter. Als er näher kam, konnte sie dem verwirrten Ausdruck auf seinem Gesicht ablesen, dass er ihr Haar gesehen hatte, die dünnen Büschel und den spärlichen Flaum, die rosafarbene Kopfhaut, die durchschien. Zum Glück sagte er nichts, wisperte nur: »Was machen Sie da?«
Sie drehte sich auf ihren Zehen, stellte ihre Fersen auf den Stuhl und nahm ihre Hand vom Kopf. »Es ist der Ruf zum Gebet«, flüsterte sie und winkte ihn zu sich. »Der Ruf des Muezzins.« Sie drehte sich wieder zum Fenster. »Ist das nicht wundervoll?«
Trevor verzog das Gesicht, während er über den kalten, verdreckten Boden lief. Er lehnte sich neben ihr gegen die Wand, und gemeinsam schauten sie über den breiten Rand des Betonfensters. Die Landschaft unter ihnen war ein Meer aus Flachdächern und getünchten Häusern. Schwache orangefarbene Straßenlaternen beleuchteten eine schmale asphaltierte Straße. Ein Lkw schlängelte sich die Straße entlang, auf der Ladefläche kauerte eine Menschenmenge. Eine verhüllte Gestalt erschien im Dachgarten nicht weit von ihnen und verbeugte sich mit ausgestreckten Armen.
»Was geht da vor?«, fragte Trevor.
»Der islamische Ruf zum Gebet«, flüsterte Constance. »Sie beten fünfmal täglich gen Mekka. Thomas hätte das geliebt.«
»Mekka?«, flüsterte er zurück. Und dann: »Warum flüstern wir?«
»Die Heilige Stätte des Islam. In Saudi-Arabien. Muslime glauben, dass es die erste Stadt war, die es je gab auf der Welt.«
»Jeder betet fünfmal am Tag?«
»Jeder, der ein gläubiger Muslim ist.« Sie wandte sich zu ihm, und die Schatten auf seinem Gesicht sahen unheimlich aus im Glanz des Mondes. »Haben Sie das noch nie zuvor gesehen?«
»Oh... klar... nur nicht mitten in der Nacht«, murmelte er. »Ich bin nicht religiös.«
Sie wusste, dass er sie anlog. Warum auch nicht? Sie war ja nur eine Fremde, die er niemals Wiedersehen würde. Aus irgendeinem Grund stimmte der Gedanke sie traurig.
»Ich gehe wieder ins Bett.« Trevor löste sich von der Wand.
Constance hörte einen winzigen Hauch von Schuldgefühl in der ungezügelten Entnervtheit seiner Stimme. Sie beobachtete, wie er zu seinem Bett zurückstolperte. Dieses Mal zog er sich bis auf die Unterwäsche aus, bevor er sich auf die Matratze legte.
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