Mein Auge ruht auf dir - Thriller
schmerzlichen Nachmittag denken, an dem Jonathan angerufen und ihr mitgeteilt hatte, dass er mit ihr reden müsse.
»Lily, es fällt mir nicht leicht, das zu sagen, aber wir können uns nicht mehr treffen.«
Er klang, als hätte er geweint, trotzdem lag in seiner Stimme große Entschlossenheit, dachte Lillian wütend. Er hat mich so sehr geliebt, dass er meinte, mich fallen lassen zu müssen, und dann ist er erschossen worden trotz seiner edlen Absicht, die Beziehung zu Mariah ins Reine zu bringen und sich ganz der Pflege von Kathleen zu widmen.
Er und seine Frau hatten vierzig gute gemeinsame Jahre verbracht, bevor Kathleen krank wurde. Reichte ihr das nicht? In den letzten Jahren wusste sie doch meistens gar nicht mehr, wer er überhaupt war. Wofür blieb Jonathan also? Warum wollte er nicht einsehen, dass er auch mir etwas schuldig war? Irgendwann hätte auch Mariah sich damit abgefunden – sogar ihr war klar, wie schlimm es um ihre Mutter stand und was ihr Vater deswegen alles durchmachte. Sie musste sich ja nicht tagaus, tagein um ihre Mutter kümmern, so wie er es getan hat. Selbst sie hätte irgendwann so ehrlich sein und sich diese Tatsache eingestehen müssen.
Die Achtzehn-Uhr-Nachrichten begannen. Jonathans Ermordung war der Aufmacher. Zu sehen war der Platz vor dem Gerichtsgebäude, auf dem sich die Journalisten drängten. Der CBS-Reporter sagte: »Ich stehe auf den Stufen zum Gerichtsgebäude des Bergen County in Hackensack, New Jersey. Wie auf der vor etwa einer Stunde aufgenommenen Einspielung zu sehen ist, hat die siebzigjährige Kathleen Lyons in Begleitung ihres prominenten Anwalts Lloyd Scott und ihrer Tochter Mariah Lyons das Gebäude betreten, wo sie dem Staatsanwalt des Bergen County überstellt wurde. Nach den fast eine Woche andauernden Ermittlungen wird sie des Mordes an ihrem Ehemann verdächtigt, dem pensionierten NYU -Professor Jonathan Lyons, der letzte Woche in seinem Haus in Mahwah erschossen wurde. Kathleen Lyons, die nach den Aussagen mehrerer Gewährsleute an Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium leidet, ist angeblich im Wandschrank kauernd aufgefunden worden, wo sie die Mordwaffe in Händen hielt.«
Die Aufzeichnung zeigte Kathleen, wie sie in Begleitung ihres Anwalts und ihrer Tochter langsam das Gerichtsgebäude betrat. Wenigstens einmal ist die Krankenpflegerin nicht in ihrer Nähe, dachte Lillian. Ich habe diese Rory nie gemocht. Sie hat mich immer so seltsam angestarrt, als wollte sie mir zu verstehen ge ben, dass sie mich durchschaut. Ich schwöre, sie ist an allem schuld. Jonathan hat erzählt, er hätte unsere Fotos in einer Buchattrappe in seinem Arbeitszimmer versteckt. Wie hat Kathleen sie zwischen den vielen anderen Büchern überhaupt finden können? Ich kann mir schon denken, wie das geschehen ist. Die gute alte Rory hat herumgeschnüffelt, hat die Fotos gefunden und ist damit sofort zu Kathleen. Sie ist eine geborene Unruhestifterin.
Gegen Ende der Aufzeichnung wies der Reporter aufgeregt darauf hin, dass Lloyd Scott und Mariah Lyons das Gebäude verließen. Mariah wirkt völlig am Boden zerstört, dachte Lillian. Na, dann sind wir jetzt ja zu zweit. Lloyd Scott schob die Mikrofone weg, die Mariah vors Gesicht gehalten wurden. »Lassen Sie mich nur ein paar Worte sagen«, begann er. »Kathleen Lyons wird morgen um neun Uhr Richter Kenneth Brown vorgeführt. Sie wird sich nicht schuldig bekennen. Der Richter wird dann auch die Kautionsfrage ansprechen.« Er hatte den Arm um Mariah gelegt und eilte mit ihr die Treppe hinunter zum bereits wartenden Wagen.
Ich würde jetzt zu gern in diesem Wagen Mäuschen spielen, dachte Lillian. Was macht Mariah jetzt? Weint sie? Tobt und schreit sie vor Verzweiflung? So wie ich es getan habe, als der edle Jonathan mir erklärt hat, dass ich entbehrlich bin. Ich bin mir wie eine Bettlerin vorgekommen, die ihn heulend angefleht hat: »Das war es dann? Aber was ist mit mir ? Was ist mit mir ?«
Sie musste an das Pergament denken. Es befand sich in ihrem Bankschließfach nur zwei Blocks entfernt. Es gab Leute, die ganz versessen darauf waren.
Wie viel würden sie dafür zahlen, fragte sie sich, wenn sie eine heimliche Auktion durchführte?
Drei Wochen zuvor hatte Jonathan es ihr voller Ehrfurcht gezeigt und sie gefragt, ob sie ein Schließfach habe, wo sie es aufbewahren könne, bis er Vorkehrungen getroffen habe, um es dem Vatikan zurückzugeben.
»Lily, es ist ein ganz schlichter Brief. Jesus hat gewusst, was geschehen
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