Mein bis in den Tod
wollte er nicht einmal nachdenken.
Er trank einen Schluck Wasser aus einem Glas auf seinem Schreibtisch. Unten wartete eine bildhübsche junge Frau. Vor zwei Jahren war auf ihrer Daumenspitze ein ungefährlich aussehender weißer Fleck erschienen, jetzt fehlte ihr der rechte Arm. Sie kam zu ihm, um zu fragen, ob er ihr helfen könne, den Krebs zu besiegen. Er musste stark sein, um ihretwillen. Um seiner Patienten willen – und um Leahs willen, wenn er mit Harveys Leichnam nach Amerika zurückkehrte. Vielleicht so stark wie noch nie im Leben.
Ich brauche dich, Faith. Ich brauche dich im Augenblick sehr
.
Und sie gefällt mir nicht, diese Stille um dich herum. Sie ist zu laut. Viel zu laut.
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U m 15.17 Uhr stand Dr. Jonathan Mumford, der Dienst habende Stationsarzt der Intensivstation des Krankenhauses Harley-Devonshire neben Geraldine Reynes-Raleighs Bett und füllte eine Todesurkunde aus. In die Rubrik Todesursache schrieb er: »Meningoenzephalitis infolge einer Sepsis.«
Eine halbe Stunde später, er hatte ihren Leichnam in den im Keller gelegenen Kühlraum geschoben, schlüpfte ein 21-jähriger Mitarbeiter namens Jason Rilletts aus dem Hintereingang des Krankenhauses auf einen kleinen Platz, der vom Devonshire Place abging, lief einige hundert Meter und blieb weit außer Sichtweite des Krankenhauses vor einer Tür stehen. Dort tätigte er ein Telefonat mit seinem Handy, das er sich eigens für solche Situationen gekauft hatte.
Der Anruf ging an einen Journalisten namens Will Arnoldson, der ihn vor ein paar Jahren angesprochen hatte. Arnoldson war ein recht zweifelhafter Typ: dunkelhäutig, gut aussehend, immer in feinem Anzug. Er sah eher wie ein James-Bond-Bösewicht aus und weniger wie ein Zeitungsmann.
Arnoldson arbeitete als freier Journalist. Er hatte gute gesellschaftliche Verbindungen und bestritt seinen Lebensunterhalt teilweise mit dem Verkauf von Klatschgeschichten an die Boulevardpresse. Für jede Geschichte über die gut situierten Patienten des Harley-Devonshire, die gedruckt wurde, zahlte er Rilletts 30 Pfund. Der letzte Leckerbissen, mit dem Jason Rilletts ihn gefüttert hatte, war vor vierzehn Tagen im Nachrichtenteil der Zeitung
Hello!
erschienen.
»Lady Reynes-Raleigh? Sagt Ihnen der Name etwas?«, fragte Rilletts und blickte sich um.
»Ja, die gibt was her«, antwortete Arnoldson. »Ziemlich viel sogar. Was erzählt man sich über sie?«
Wie üblich bekam Arnoldson mehr aus ihm heraus, als er sagen wollte. Der Journalist meinte, dass sich – mit ein wenig Ausschmückung – eine gute Geschichte daraus machen ließe. Vielleicht könnte er aus der Sache sogar zwei Storys machen, sie aus verschiedenen Blickwinkeln aufbereiten – falls Jason denn kein Problem damit habe. Es könnte eine doppelte Bezahlung für ihn dabei rausspringen.
Jason hatte überhaupt kein Problem damit.
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E r ruft schon zum zweiten Mal an«, sagte Lucinda über die Gegensprechanlage in seinem Büro. »Ich glaube, Sie sollten mit ihm sprechen.«
Auf Ross’ Schreibtisch stand ein Tablettenfläschchen von Moliou-Orelan. Darin befanden sich 97 Kapseln, auf dem Schreibtisch lagen drei davon. Er hielt eine auf der Schreibunterlage mit einer Pinzette fest, schob die Kanüle der Spritze in die Einkerbung zwischen den beiden Hälften und injizierte dieselbe winzige Menge Ketamin, die er mit einiger Mühe auch in alle anderen gespritzt hatte.
»Wann operiere ich morgen?«, fragte er, legte die Injektionsspritze beiseite und hielt die Kapsel so hin, dass er sie im Licht inspizieren konnte, bevor er sie zurück in das Fläschchen legte.
»Um elf. Sie haben mir gesagt, ich soll keinen früheren Termin machen. Ich musste da einiges umlegen.«
»Meinen Sie, ich sollte zum Begräbnis von Lady Reynes-Raleigh gehen?«
Eine Pause, dann ein scharfes: »Warum?«
»Ich – als ihr Operateur.« Dann fügte er lahm hinzu: »Um Kontakte zu knüpfen?«
»Ich halte es für keine sehr gute Werbung, bei der Beerdigung einer Patientin aufzukreuzen, die gestorben ist, nachdem man sie operiert hat.«
»Stimmt«, sagte er. Und dachte: Was denke ich da eigentlich? Drehe ich durch? Meine Urteilskraft ist völlig zum Teufel.
»Finden Sie, dass wir Blumen schicken sollten?«
»Auf keinen Fall. Sie müssen sich von der Frau lösen. Halten Sie Ihren Namen da raus.« Seine Sekretärin hielt inne, dann fügte sie hinzu: »Wie auch immer, Sie haben die Frau doch nie leiden können. Wieso wollen Sie ihr dann Blumen
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