Mein bis in den Tod
weg und schloss sich Oliver auf dem Flur an. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, fragte er: »Haben Sie den Mann schon mal gesehen?«
»Ich glaube nicht.«
Eine junge Frau humpelte auf Krücken den Flur entlang auf sie zu.
»Susan, wie geht’s Ihnen?«, begrüßte Oliver sie.
Sie blieb stehen, außer Atem. »Ganz gut. Die Akupunktur hilft wirklich – ich hatte gerade wieder eine Sitzung. Aber ich mag sie nicht. Es tut weh.«
»Ohne Schmerzen kein Nutzen. Stimmt’s?« Er ließ ein Lächeln folgen, das Steine erweichen konnte. »Rufen Sie mich an, wenn Sie den nächsten Termin haben – ich möchte mir Ihr Bein selbst anschauen und sehen, wie es sich macht. Es scheint Ihnen schon viel besser zu gehen. Ich meine das ernst.«
Faith folgte ihm eine Treppe hinauf und ging mit ihm noch einen Gang entlang. »Kennen Sie alle Patienten hier?«
»Ich versuche, mit allen ein Erstgespräch zu führen, um zu entscheiden, welche Behandlung am besten funktioniert. In der Schulmedizin gibt es in der Regel nur eine Behandlungsmethode, und wenn man davon abweicht, riskiert man den Zorn des Berufsstandes, der Krankenkassen, Kunstfehlerprozesse, was auch immer. Bei der Medizin, die wir hier praktizieren, wird jeder Patient ganz individuell behandelt. Die junge Frau leidet an einer seltenen Form von rheumatischer Arthritis. Die Mutter ist vor zwei Jahren zu mir in die Praxis gekommen – die junge Frau saß im Rollstuhl und konnte nicht einmal mehr einen Bleistift halten. Jetzt hat sie nur mit einem Fuß Beschwerden. Sie fährt selbst im Auto hierher. Wir haben ihr das Leben zurückgegeben.«
»Erstaunlich.«
Er blieb vor einer anderen Tür stehen. »Wir machen hier nichts Erstaunliches. Wir tun nur, was die pharmazeutische Industrie den Schulmedizinern gestatten sollte, aber verbietet. Man muss verstehen, woraus die meisten Pharmakonzerne entstanden sind. Man verdient kein Geld, wenn man Patienten mit einem einzigen, absolut wirksamen Medikament heilt – die Entwicklungskosten wären zu hoch. Das große Geld lässt sich nur mit Krankheitsmanagement verdienen. Die Industrie mag chronische Leiden, an denen die Patienten zwar nicht sterben, die sie jedoch in einem dauerhaft schlechten Gesundheitszustand halten, so dass sie ihr ganzes Leben auf Medikamente angewiesen sind. So kann sie die hunderte Millionen Pfund, die die Arzneimittelforschung kostet, wieder hereinholen.«
Er hob den Blick. »Wir haben nur ein Interesse: die
Heilung
der Patienten. Das ist auch der Grund, warum die pharmazeutische Industrie alles in ihren Kräften Stehende tut, das zu kritisieren, was wir tun. Sie regt sich auf, wenn wir Menschen mittels Therapien, die nicht patentierbar sind, oder natürlicher Wirkstoffe, die frei erhältlich sind, heilen.«
Sie sah ihn zweifelnd an. »Warum laden die großen Bosse Sie dann zu ihren Dinnern ein?«
»Weil sie gern ihre Gegner kennen, vermute ich.«
Er klopfte, dann betraten sie das Zimmer. In dem fensterlosen Raum war es dunkel, er tastete nach einem Lichtschalter, dann flackerten zwei Neonröhren auf. Eine davon summte laut.
Es war ein kleines Besprechungszimmer, ausgestattet mit einer stattlichen Reihe an Hightechgeräten und einer Untersuchungsliege. In dem Raum herrschte ein starker Geruch, den Faith immer mit modernen Büros und Mietwagen in Verbindung brachte – der Geruch von brandneuen, synthetischen Polstern. Er erinnerte sie an den Toyota, den sie in Thailand gefahren hatte.
Sie waren kaum einen Monat zurück, aber es kam ihr viel länger vor. Inzwischen erschienen ihr die Erinnerungen an ihren Urlaub mehr wie ein TV -Reisebericht, den sie sich angesehen, denn wie etwas, das sie selbst erlebt hatte. Der Reisebericht zeigte einen großen Mann mit einer blonden Ehefrau und einem kleinen Sohn. Der Mann spielte mit seinem Sohn oder saß – wenn er das nicht tat – an der Bar und plauderte höchst charmant mit jedem, der zufällig in der Nähe war.
Die blonde Frau schien Probleme zu haben. Sie hatte auf Schulter und Brust einen starken Sonnenbrand, hatte mehrere Tage im Schatten gelegen und abwechselnd Thriller und ernst zu nehmende Bücher über die Psychologie zwischenmenschlicher Beziehungen gelesen.
In einem gemieteten Jeep hatten sie mehrere Ausflüge auf der Insel unternommen und den Affenwald und einen spektakulären Wasserfall besucht. Sie waren mit ihrem kleinen Jungen zu einem Meerwasseraquarium gefahren, wo er von einem Riesentintenfisch fasziniert gewesen war und vor einem
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