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Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
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die er mit dem Entsetzen weitgeschlossener Augen erlebt hatte, zerstörte die auf ihre Autonomie pochende Bildwelt der Künstler des Informel. Mušičs Szenen genierten die Zuschauer. Und dieses Gefühl von Scham marginalisierte lange eines der bedeutenden Werke der Jahre nach dem Krieg. Der Geist der Zeit legte nahe, nach vorne zu blicken und das Bild vom erniedrigten Menschen eher zu verheimlichen: Es war ästhetisch nicht korrekt. Giacometti konnte sich alle Abweichungen vom menschlichen Kanon, jede Deformation erlauben. Nie brachte dies der Kommentar mit einem realen Geschehen in Verbindung. Denn dem Diktat der Gegenstandslosigkeit, das nun für lange Jahre jeden Gedanken an menschliche Individuation aus der Malerei verbannen sollte, erschien die Hinwendung zu einer realistischen Wiedergabe von Wirklichkeit und Grauen unzumutbar. Dort, wo er modellierte, betrat man das Rollenspiel der einschüchternden Spinne, die ihr Modell als Opfer vor sich sieht. Es war packend mitzuerleben, wie unter seinem Blick – ich erinnere mich an Stunden, in denen ihm jemand Modell saß – der Mensch versteinerte. Die Liturgie bewahrte etwas von den surrealistischen Sitzungen, die Giacometti noch miterlebt hatte, an das Spiel mit einem Medium und hypnotischem Schlaf. Den nachdrücklichsten Einfluss auf die gängige, schließlich geradezu normierte Rezeption des Werks übte sicherlich Sartre aus – und dass Giacometti an der Aura des Gequälten, an der Beschreibung des Kampfes, die ihm Sartre anbot, sehr viel lag, darüber geben uns mehrere seiner Texte eine sichere Auskunft. Die Anschaulichkeit, mit der der Künstler seine Erfahrung eines Realitätsverlustes bis in die früheste Kindheit zurückführt, scheint haarscharf den Sartre’schen Überdruss am »Zuviel« nachzuzeichnen, den Bücher wie Der Ekel so populär gemacht haben. Nehmen wir nur ein Zitat. Es entstammt dem Text »Le rêve, le sphinx et la mort de T«. Giacometti hat ihn 1946 im Anschluss an die Lektüre Sartres niedergeschrieben. In ihm tritt das makabre Schwarz-Weiß der Nachkriegszeit scharf hervor: »Als ich zum ersten Mal deutlich wahrnahm, wie der Kopf, den ich gerade betrachtete, erstarrte, im Nu endgültig bewegungslos wurde, zitterte ich vor Entsetzen wie noch nie in meinem Leben, und kalter Schweiß lief mir den Rücken hinunter. Das war kein lebender Kopf mehr, sondern ein Objekt, das ich betrachtete wie jedes beliebige andere Objekt, nein, anders, nicht wie jedes beliebige andere Objekt, sondern wie etwas gleichzeitig Lebendiges und Totes …«
    Auch Mušič ging in den ersten Nachkriegsjahren wie gelähmt dem Alptraum aus dem Weg. Die figürlichen Darstellungen verschwanden zunächst. Ich erkundigte mich dann und wann nach diesem Schweigegebot, das er sich auferlegt hatte. Er konnte dazu nichts sagen. Er war überhaupt kein Mann, der sich zur eigenen Arbeit äußern wollte. Ich kam jedoch nicht um diese bohrende Frage herum, denn die Landschaften und Spielzeugpferdchen, die er damals malte, verblüfften, ja schockierten durch ihren Mangel an Emotionalität. Wollte sich der Künstler mit dieser braven Stilisierung über das Zeitalter der Gegenstandslosigkeit lustig machen? Wüsste man nichts von dem Exorzismus, der der Wiederauferstehung des Künstlers notwendig vorausgehen musste, wäre man versucht, in diesen Gemälden so etwas wie eine nihilistische Euphorie zu erkennen. Doch mit einem Schlag verschwanden die so harmlos wirkenden Landschaften, die an die Zeit der Jugend in der Gegend von Gorizia erinnern. Die sanften, mütterlichen Rundungen, die an alles andere als an Tod denken lassen, brechen 1970 wie Pestbeulen auf, sie setzen Leichen frei. Eine Lava aus menschlichen Larven, eine Woge aus Kadavern durchstößt die Erosion, wächst dem Auge zu. Es sind Paraphrasen über aufgerissene Münder, leere Augenhöhlen, über den Starrkrampf der Glieder. Ich erwähnte Mušič gegenüber, dass er seinen Zyklus genau in den Monaten begonnen hatte, in denen Beckett mit dem Text Der Verwaiser eine der unerhörtesten Stilisierungen des Totentanzes veröffentlichte.

    Marcel Duchamp und Werner Spies

    Schon früh, zwischen den idyllischen Verdrängungsbildern im Atelier stehend, konnte ich erkennen, dass die Zeichnungen, die Mušič heimlich in Dachau gemacht hatte und die nicht vom Lagerleben, sondern vom Lagertod zeugen, ein beispielloses Dokument der Zeit sind. Er zeichnete Erhängte, Erwürgte und Verhungerte. Nur dann und wann tritt ein Lebender dazu: so

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