Mein Glueck
Lacan, Derrida, Barthes oder Foucault auf ihrem Feld nachgingen. Dekonstruktion, Bruchlinien im Dasein, schöpferische Zerstörung hatte ich wie ein Simplicissimus selbst erfahren dürfen. Aus diesem Grunde gehörte die Entdeckung der Faszination durch das Vorgehen Richters für mich zu den Erlebnissen, die mich wieder in meine ursprüngliche Heimat Deutschland zurückriefen. Zwischen den Perioden des Werks verläuft eine tiefe, verdüsternde Schattengrenze. Etwas bricht ab oder bricht ein: Tag wird zur Nacht, Nacht wird zum Tag. Kälte springt in Hitze um. Gerhard Richter setzt Themen und Malweisen so nebeneinander, dass sie sich wechselseitig bedrängen. Hitze und Eis der Empfindungen treffen aufeinander. Hier gibt es kein Glissando, das das Auge langsam von einer Phase des Werks zur anderen gleiten lässt. Es gibt keinen anderen Maler, der mit dieser Autorität und Überzeugungskraft so verführerisch in imaginäre Räume lockte. Alles entzieht sich, nichts lässt sich festhalten. Ein Regen aus Dampf und klirrend explodierendem Glas überfällt den Betrachter. Man denkt immer wieder an eine ungreifbare Welt, an eine Welt, in die man nur gelangt, wenn man Eis oder Glas zerbricht. Glas ist nicht nur ein Stoff, auf den der Maler durchgehend in seinen Werken anspielt: Glas, Optik, Linse könnte man als Hoheitszeichen seines Umgangs mit der Leinwand erklären. Werke wie »Spiegel«, »Glasscheibe« und seit einigen Jahren im Kölner Dom die überwältigende, in Funken zerbrechende Welt im Riesenfenster zeigen dies. Als am 4. August 2006 das Fenster im Dom erstmals vollständig für kurze Zeit enthüllt wurde, lud mich Gerhard als Zeugen ein. Die Spannung im abgesperrten Querschiff war kaum auszuhalten. Bei unseren Wanderungen über die Sommerwiesen im oberen Engadin, begleitet vom Continuo der Bäche und dem rhythmischen Getrappel der Kutschen nach Fex-Curtins, war mir klar geworden, dass Richter dem Kölner Dom ein in zahllosen farbigen Facetten schmetterndes Fenster zum Geschenk machen und alles andere als ein Dekor für eine blinde Fehlstelle liefern wollte. Mit einer derart bekennenden Profanität hat sich seit hundert Jahren keine zeitgenössische Kunst mehr in die Kirche getraut. Und daran kann kein Zweifel bestehen, es bleibt nicht bei einer unbeteiligten Hinnahme im Kirchenschiff. Zu aggressiv und hitzig stürzen die Farben in den Raum. Es ist ein unerwarteter Jubel, in den das Werk ausbricht.
Ein Blick in den disparaten »Atlas«, in dem der Künstler seit Jahren sein Diarium festhält, zeigt eine Reihe von Aufnahmen, die an die Ferien erinnern, die er in Sils Maria im Winter und im Sommer verbracht hat. Es geht auf diesen Seiten um Überlebensgroßes, aber auch Unterlebensgroßes, um Berichte aus dem Bereich des Politischen und Vermischten, um Frau, Kinder, Details, Pflanzen, Steine und, in ewiger Wiederkehr, um die strahlende, gläserne Weite der Landschaft im oberen Engadin, die im Vordergrund von den hellgrünen Zweigen der Föhren »vermalt« wird. Die Verwischungen mit Pinsel und Tusche, dank derer Richter die eigenen Fotografien ein wenig von sich schiebt, könnte etwas von der sinnlich erlebbaren Verbindung von Nahansicht und Ferne im Bannkreis von Sils Maria weitertragen. Die Fotografien, die er bei den Wanderungen macht und anschließend übermalt, zeigen, wie stark ihn die Verwirrung durch das Momentane dazu zwingt, seinen unsteten Blick auf diese Lieblingslandschaft gegen die transzendentalen Sicherheiten definitiver, fixierter Bilder zu setzen. Es geht um eine Schönheit, an die er sich »unten«, im Tal, kaum mehr traut. Es genügt, die Aufnahmen vom jammervoll zerzausten »Hahnwald« bei Köln zu mustern, die kurz vor der Ankunft in der Höhe entstanden sind.
Gerhard, seine Frau Sabine, die Dombaumeisterin, ein Fotograf und ich standen auf der Nordseite des Querschiffs und warteten darauf, dass das riesige Fenster freigelegt würde. Kein Wort fiel. Es gab nur ein von Erregung aufgeladenes Schweigen. Anschließend stiegen wir hoch und sahen vom Lichtgaden aus das Fenster gegenüber, auf gleicher Höhe. Während des Mittagsläutens und im Mittagsglast zeigte sich etwas, was auch der Künstler nicht erwartet haben konnte. Denn nach der melancholischen, giftig bleiernen Aufreihung von Strontiumkristallen, die er in seinem letzten großen Auftrag für San Francisco präsentierte, konnte man nun von Auferstehung, von Erlösung sprechen. Man möchte an die Ursuppe in »Solaris« denken, die
Weitere Kostenlose Bücher