Mein Gott, Wanda: Roman (German Edition)
dass man seiner Jugend ein ganzes Leben lang hinterherhetzen und sie doch nie wieder einholen konnte. Übrig blieb meist nur ein sportbesessenes Wrack mit ledriger Haut, auf der Muskeln und Adern hervortraten wie bei den konservierten Leichen in der Anatomie. Aber das war nicht ihr Problem. Ihr Problem war die lockere Zahlungsmoral. Die Typen hatten sich die ganze Zeit einfach selbst bedient, als wäre Wanda unsichtbar oder Teil der Einrichtung oder nicht ganz zurechnungsfähig. Das musste aufhören.
Außerdem würde sie sich den Papierkram vorknöpfen, sich sportlicher anziehen, sich vom Innenhof und dem bizarren Treiben dort fernhalten und dann … dann … dann würde sie Bertram absagen. Sie holte tief Luft. Stefan war ihr Kind und brauchte ihre Hilfe. Und Australien würde nicht über Nacht verschwinden wie dieser verdammte Enrico. Irgendwie würde sie das schon schaffen. Bis jetzt hatte sie doch immer alles irgendwie geschafft, auch wenn sie an manchen Sachen beinahe verzweifelt wäre. An dem Entschluss, ihren festen Job aufzugeben und sich mit dem Teeladen selbständig zu machen, an der Scheidung, an Stefans ständigen Desastern … Sie wischte sich kurz die Augen. Das waren keine Lachtränen mehr. Das waren neue, kleine, einsame Tränen, die sich Wanda nur in der Abgeschiedenheit ihrer Küche erlaubte. Neben der Kaffeemaschine lag der Stapel von Ansichtskarten, die Stefan ihr damals geschickt hatte und die sie noch vor kurzem mit einem unbändigen Gefühl der Vorfreude betrachtet hatte. Da in dem Strandrestaurant hatte sie sitzen, dort in dem azurblauen Wasser schwimmen, hier auf der Straße durch die roten Felsen und endlose Weite fahren wollen … Mit wütendem Schwung fegte Wanda die Karten auf den Fußboden. »Verdammt noch mal, Stefan. Weißt du eigentlich, was ich dir für ein Opfer bringe?«, fragte sie leise.
Natürlich wusste er das nicht. Kinder gingen immer davon aus, dass ihre Eltern schon alles richten würden. Wanda selbst hatte erst nach dem Tod ihrer Mutter begriffen, wie viel die für sie getan hatte. Ohne zu jammern.
»Du schaffst das«, sagte sie daher laut und bestimmt in den dämmrigen Raum hinein. Und wenn sie schon einmal dabei war … Mit den ungebetenen Gästen im eigenen Garten würde sie anfangen. Sie griff nach ihrer Handtasche und suchte darin nach der Spraydose, die dort seit Tagen vor sich hin dümpelte. Die hatte sie vor lauter Stress ganz vergessen. So bewaffnet trat sie in den Abend hinaus und hüllte den gesamten Steingarten in eine unsichtbare Wolke aus Repello.
So. Jetzt war nämlich Schluss mit lustig.
Am nächsten Morgen nieselte es, nachdem die ganze Nacht hindurch ein heftiger Regen gewütet hatte, um auch wirklich noch die letzte Spur des Sprays wegzuwaschen. Der fremde Dackel schickte sich daher schon wieder an, seinen Stammplatz aufzusuchen. Er kam gemütlich die Straße entlanggeschlendert und traf auf Wandas Gartenweg mit ihr zusammen. Schwanzwedelnd begrüßte er sie wie eine alte Bekannte.
»Wage es ja nicht«, presste Wanda heraus.
»Haben Sie jetzt einen Hund?«, erkundigte sich eine Stimme von rechts. Der alte Herr Gilder. Er stand unter dem kleinen Vordach vor seinem Haus und befestigte gerade eine neue Lampe an seinem Fahrrad.
»Von wegen«, empörte sich Wanda. »Wissen Sie, wem das Vieh gehört?«
Herr Gilder zog bedauernd die Schultern hoch. »Keine Ahnung. Steht was auf seinem Halsband?«
Darauf hätte Wanda eigentlich selbst kommen können. Mit spitzen Fingern griff sie nach dem Halsband des Dackels, der ihr, wohl in Erwartung einer Streicheleinheit, seinen Kopf vertrauensvoll entgegenreckte. Das Halsband war aus hellblauem Leder und mit kleinen schwarzen Pfoten bedruckt. Daneben war der Name »Miles« eingraviert sowie eine Telefonnummer, von der die letzten drei Zahlen durch Witterung und exzessives Wälzen im Dreck unleserlich geworden waren.
»Miles«, las Wanda vor. »Wer nennt denn seinen Hund Miles? Und die Nummer kann man auch nicht lesen.«
»Miles? Wie Miles Davis? Miles, mein gutes Hundchen«, rief Herr Gilder. Er streckte seine Hand aus, und zu Wandas Verdruss rannte der blöde Dackel sofort begeistert zu ihm. Na, prima. Da hatten sich ja zwei gefunden.
»Adoptieren Sie ihn doch«, sagte sie und verdrehte die Augen.
»Nee, ich brauche keinen Hund. Ich muss Fahrrad fahren, hat mir der Arzt verordnet.« Der alte Mann deutete auf das Rad. »Jeden Tag zwanzig Kilometer, so wie früher. Bei uns hieß es immer: Jeder Mann an
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