Mein Gott, Wanda: Roman (German Edition)
neckischen Beschriftungen wie Frühschoppen oder i-Pott und Adventskerzen befanden. Es war wirklich ein Phänomen. Die Leute schienen sich wohl zu fühlen, redeten miteinander, nutzten die Geräte, besuchten die Kurse, die Sauna. Und zwar den ganzen Tag hindurch. Wanda kam aus dem Staunen nicht heraus. Und sie hatte auch schon zwei Wichtelpakete gefunden. Nur, dass in ihren keine Vanillekipferl steckten. In dem ersten Päckchen hatte sie ein Schwarzweißfoto von sich gefunden. Es zeigte sie im Profil, sie war in Gedanken versunken, und der unbekannte Fotograf hatte es auf mysteriöse Weise geschafft, ihren Augen und Haaren einen weichen Glanz zu verleihen und ihren Hals schmeichelhaft aussehen zu lassen. Sie hatte keine Ahnung, wann und wo das aufgenommen worden war. Im zweiten Päckchen steckte eine kleine silberne Kette mit einem ungewöhnlichen Anhänger – ein silberner Kreis, in den die Silhouette eines Baumes eingraviert war. In der Mitte glitzerte wie eine einzige Blüte der winzigste Stein, den Wanda je gesehen hatte. Ein Diamant? Life is beautiful stand auf der Rückseite. Die Kette und das Foto stammten eindeutig nicht von Ecki. Ecki hätte ihr – wenn überhaupt – einen Fotoband über weltberühmte Baudenkmäler geschenkt oder eine Plastik von einem vielversprechenden Nachwuchstalent, bei der man nicht wusste, ob sie Mann, Frau oder Amöbe darstellen sollte. Nein, die Wichtelgeschenke waren leiser, zarter und irgendwie intimer. Weshalb sie auch nicht von Biggi oder Marianne sein konnten. Auch Otto Gilder oder Hajo kamen nicht in Frage. Genauso wenig Franziska, die seit neuestem in Lederjacke und seltsam klobigen Stiefeln herumlief und eine Vorliebe für die Phrase »on the road« entwickelt hatte. Und schon gar nicht von Kai, denn der hatte sich in die menschliche Schweiz verwandelt und verhielt sich so neutral, dass es manchmal schon fast beleidigend war. Wanda war auch nicht entgangen, dass neulich die Apothekerin auf der anderen Straßenseite auf ihn gewartet hatte. Trotz ihrer Kurzsichtigkeit hatte Wanda genau gesehen, dass Kai den Arm um seine Frau gelegt hatte. Das war ja auch gut so. Also – Wanda konnte es drehen und wenden, wie sie wollte – blieb nur einer übrig. Gerd. Wozu sonst schlich er immer hier herum? Um seine Kondition zu verbessern, bestimmt nicht. Aber sie brachte es nicht fertig, ihn zu fragen, ob die Geschenke von ihm stammten. Was, wenn sie sich irrte? Er wusste doch, dass Wanda und Ecki zusammengehörten, man musste schon mit dem Verstand einer Stubenfliege geschlagen sein, um das nicht mitzubekommen, so oft wie Ecki »Wo ist denn meine widerspenstige Wanda?« durch den Raum dröhnte.
»Da kommt noch jemand«, ließ sich plötzlich Biggi vernehmen. »Wenn der sich anmeldet, dann schaffen wir das mit den zweihundert Leuten.«
Wanda sah sich um. Tatsache, durch die Tür schleppte sich ein junger Mann mit bleichem Gesicht und umschatteten Augen, schmaler Hühnerbrust und offenen Schnürsenkeln. Wenn jemand jemals eine Mitgliedschaft in einem Fitnessklub nötig gehabt hatte, dann er.
»Hallo«, wandte Wanda sich freundlich an den Neuankömmling. »Willst du dich mal umsehen? Es ist ein bisschen chaotisch im Moment, wir bauen gerade den Hof um und …«
»Deshalb bin ich ja hier«, erklärte der junge Mann. Zu Wandas Erstaunen erwiderte er ihr Lächeln nicht. »Ich wollte fragen, wann der Lärm endlich aufhört. Ich habe Nachtschicht im Krankenhaus, ich kann da echt nicht schlafen.«
»Sie sind Arzt?«, fragte Biggi interessiert. »Haben Sie eine Ahnung, was das sein könnte, wenn man nachts immer aufwacht, weil die Ohren so rauschen und …«
»Medizinstudent«, schnitt er ihr das Wort ab. »Der zurzeit ein Praktikum mit Nachtschicht macht, weshalb ich dringend Schlaf brauche, was bei diesem Krach kaum möglich ist. Ich wohne doch genau über Ihnen.«
»Ach, Sie sind das. Sie sind erst eingezogen, stimmt’s?« Wanda nickte mitfühlend. »Tut mir leid, wir sind aber fast fertig, das Gehämmer hört heute noch auf.«
»Okay.« Der junge Mann wirkte fast etwas verlegen. »Tut mir ebenfalls leid, ich will mich ja auch nicht gleich mit allen anlegen, ich bin einfach so … müde.« Er gähnte. »Ich bin wie ein Zombie, gestern habe ich mir Wasser aufgesetzt, um Nudeln zu kochen, und bin dann auf der Couch eingeschlafen. Zum Glück hat meine Freundin es noch gemerkt.« Er lächelte entschuldigend.
»Wir sind bald fertig«, beruhigte Wanda ihn wieder. »Und wenn Sie
Weitere Kostenlose Bücher