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Mein Herz so weiß

Mein Herz so weiß

Titel: Mein Herz so weiß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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Luisa zurückgekehrt war und stärker und vielleicht mit mehr Grund wieder das Vorgefühl einer Katastrophe in mir auflebte, das mich seit der Hochzeitszeremonie begleitet hatte und sich noch immer nicht verflüchtigt hat (nicht ganz zumindest, oder womöglich geht es niemals weg). Es kann aber auch sein, dass es sich um ein drittes Unbehagen handelt, ein anderes als die beiden, die ich während der Hochzeitsreise (vor allem in Havanna) und sogar vorher empfunden hatte, ein neues unangenehmes Gefühl, das indes, wie das zweite, möglicherweise ausgedacht oder eingebildet oder erfunden war, die notwendige oder unzureichende Antwort auf die erschreckende Frage des anfänglichen Unbehagens, ›Und was jetzt?‹, eine Frage, die immer wieder beantwortet wird und dennoch immer wiederkehrt oder sich selbst wiederherstellt oder immer da ist, unversehrt nach jeder Antwort, wie das Märchen von der guten Pfeife, das man allen Kindern zu ihrer Verzweiflung erzählt hat und das meine Großmutter aus Havanna mir an den Nachmittagen erzählte, an denen meine Mutter mich bei ihr ließ, Nachmittage, die mit Liedern und Spielen und Märchen und unfreiwilligen Blicken auf die Bilder der Toten vorbeigingen, oder an denen sie zusah, wie die vergangene Zeit verging. ›Soll ich dir das Märchen von der guten Pfeife erzählen?‹, sagte meine Großmutter mit gütiger Boshaftigkeit. ›Ja‹, antwortete ich wie alle Kinder. ›Ich frage dich nicht, ob ja oder nein, sondern ob du willst, dass ich dir das Märchen von der guten Pfeife erzähle‹, fuhr meine Großmutter lachend fort. ›Nein‹, änderte ich die Antwort wie alle Kinder. ›Ich frage dich nicht, ob nein oder ja, sondern ob du willst, dass ich das Märchen von der guten Pfeife erzähle‹, sagte meine Großmutter und lachte immer mehr, und so ging es weiter bis zur Verzweiflung und zum Überdruss, denn dem verzweifelten Kind fällt niemals die Antwort ein, die den Zauber lösen würde, ›Ich will, dass du mir das Märchen von der guten Pfeife erzählst‹, die pure Wiederholung als Rettung, die Äußerung, die dem Kind nicht einfällt, weil es noch immer im Ja und im Nein lebt und sich nicht mit einem vielleicht oder womöglich plagt. Aber jene andere Frage von damals und von heute ist schlimmer, und es nützt nichts, sie zu wiederholen, so wie es nichts nützte oder sie nicht beantwortete oder aufhob, dass ich sie an meinen Vater zurückgab im Kasino in der Alcalá 15, als er sie mir mit lauter Stimme stellte, wir beide allein in einem Zimmer nach meiner Hochzeit. ›Das frage ich mich auch‹, hatte ich gesagt. ›Und was jetzt.‹ Die einzige Möglichkeit, sich von dieser Frage zu befreien, besteht nicht darin, sie zu wiederholen, sondern darin, dass sie nicht existiert, dass man sie sich nicht stellt noch irgendjemandem erlaubt, sie zu stellen. Aber das ist unmöglich, und vielleicht deshalb, um sie sich zu beantworten, muss man Probleme erfinden und Ängste leiden und Verdacht hegen und an die abstrakte Zukunft denken, so hirnkrank oder so krankhaft mit dem Hirn denken,
›so brainsickly of things‹
, wovon man Macbeth abriet, sehen, was es nicht gibt, damit es etwas gibt, Krankheit oder Tod, Verlassenwerden oder Verrat fürchten und sich Gefahren erschaffen, sei es auch über eine Mittelsperson, sei es auch analog oder symbolisch, und vielleicht ist das der Grund, weshalb wir Romane und Chroniken lesen und Filme anschauen, die Suche nach der Analogie, dem Symbol, die Suche nach dem Wiedererkennen, nicht nach Erkennen. Erzählen entstellt, die Dinge erzählen entstellt die Dinge und verdreht sie und verneint sie fast, alles Erzählte wird unwirklich und ungefähr, auch wenn es wahrhaftig ist, die Wahrheit hängt nicht davon ab, dass die Dinge
waren
oder geschehen sind, sondern davon, dass sie verborgen bleiben und unbekannt sind und nicht erzählt werden, sobald sie berichtet werden oder erscheinen oder sich zeigen, selbst im scheinbar Wirklichsten, im Fernsehen oder in der Zeitung, in dem, was Wirklichkeit oder Leben oder sogar wirkliches Leben genannt wird, werden sie Teil der Analogie und des Symbols und sind keine Tatsachen mehr, sondern Momente des Wiedererkennens. Die Wahrheit glänzt nie, wie es heißt, denn die einzige Wahrheit ist die, welche nicht gekannt oder übermittelt, welche nicht in Worte oder Bilder übertragen wird, die verdeckte und nicht erkundete, und vielleicht wird deshalb so viel erzählt oder alles erzählt, damit nie etwas geschehen ist,

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