Mein Leben für dich
ich zunächst meine Arbeit erledige, bevor ich mich mit anderen Problemen beschäftige. Aber je weiter ich mich von Mias Zimmer entferne, desto klarer wird mir eins: Ich bin dabei, vor einer wichtigen Entscheidung wegzulaufen. Und das ist falsch. Ich darf sie keine Sekunde mehr in die Nähe dieses Scheißkerls kommen lassen, der sie bloß benutzt und sie garantiert enttäuschen wird. Ich muss sie irgendwie dazu bringen, einzusehen, dass Kai nicht der Richtige für sie ist. Das Problem ist nur, ich werde nicht sehr weit kommen, wenn ich bloß über ihn herziehe und ihr sage, dass ich ihn überheblich und falsch finde, denn das weiß sie bereits und sie wird eher genervt darauf reagieren. Eigentlich bleibt mir nur eins übrig: Ich muss sie mit der Wahrheit über Kais Drogenproblem überzeugen. Und auch die wird sie mir erst dann abnehmen, wenn ich ihr alles beichte. Und das würde bedeuten, dass sie auch die Wahrheit über mich erfährt. Wer ich bin, was ich getan habe und warum ich es getan habe. Ich muss mich outen, bevor Kai mir zuvorkommen kann, denn seine Version von mir wäre sicherlich noch um einiges schlimmer.
Das Summen des Fahrstuhls vermischt sich mit dem Dröhnen in meinem Kopf. Ich wünschte, es gäbe einen Ausweg, aber leider fällt mir kein anderer ein. Wenn ich Mia nicht ins Unglück rennen lassen will, dann muss ich ihr die Wahrheit sagen. Ich habe Falkenstein versprochen, seine Tochter zu beschützen, und dies ist der einzige Weg, mit dem ich dieses Versprechen einhalten kann.
Die Fahrstuhltür öffnet sich und ich marschiere durch die Lobby.
»Na, machen Sie noch einen kleinen Nachtspaziergang?«
Ich nicke und werfe Renate ein gezwungenes Lächeln zu. »Ja, ich brauch noch etwas frische Luft.«
Von allen Schritten, zu denen ich mich in letzter Zeit durchringen musste, liegt der schwerste noch vor mir, das ist mir mit einem Schlag klar. Denn mit einem hatte Kai Thalbach recht: Ich werde es nicht aushalten, die Enttäuschung in Mias Augen zu sehen, wenn sie erfährt, wer ich wirklich bin. Ich werde leiden wie noch nie in meinem ganzen Leben. Und zwar, weil ich sie liebe.
Mia
»M…Mia?« Kai starrt mich an, als stünde ein Geist vor ihm. Die Überraschung ist mir gelungen, so viel steht fest.
»Hi! Ich dachte, ich schau mal bei dir vorbei, nachdem du mich mehrmals eingeladen hast und … Ich habe deinen Lieblingswein dabei, den aus dem Saphir. Und etwas Süßes.« Seltsamerweise komme ich mir jetzt, wo ich in Kais kreidebleiches, erstauntes Gesicht sehe, wie ein Störenfried vor. Möglicherweise hätte ich wenigstens kurz vorher anrufen sollen. Vielleicht hasst Kai ja Überraschungsbesuche.
Kais Blick schweift jetzt an mir vorbei, als wolle er sichergehen, dass nicht noch jemand hinter mir im Treppenhaus steht. Ich lache, weil er schon fast panisch wirkt. »Ich bin allein gekommen, keine Angst. Simon weiß nicht, dass ich hier bin, falls du befürchtest, er könnte sich hinter der Säule dort versteckt haben.«
Kai reagiert nicht auf meinen Scherz, er verzieht noch nicht mal andeutungsweise das Gesicht.
»Und … was ist jetzt?«, frage ich unsicher. »Lässt du mich rein oder …?«
Kai räuspert sich. »Ja, klar, entschuldige«, stammelt er. »Bitte.« Er gibt mir einen flüchtigen Kuss.
»Bist du krank? Du hörst dich erkältet an.«
»Oh, das … Nein, ich habe die letzten Tage nur viel geprobt, das geht mit der Zeit auf die Atemwege.«
Ich nicke und fühle mich immer blöder. Irgendwie hatte ich erwartet, Kai würde strahlen und wäre außer sich vor Freude, mich zu sehen, aber er wirkt eher abgehetzt und fertig.
»Bist du sicher, dass ich nicht störe?«, frage ich vorsichtig nach.
»Nein, nein, du störst doch nicht. Du störst nie.« Kai lacht laut auf. »Es ist nur so, dass ich … vorher aufgeräumt hätte, wenn ich gewusst hätte, dass du kommst. Es sieht im Moment ziemlich wüst aus.«
Ich blicke mich in seinem riesigen Einzimmer-Apartment um. »Ja, das kann man wohl sagen«, murmle ich. Keine Ahnung, was ich erwartet hatte, aber das hier ganz bestimmt nicht. Die Wohnung ist das reinste Schlachtfeld, und erst jetzt, wo ich im Hellen stehe, registriere ich, dass Kai ebenso unordentlich aussieht. Seine Haare sind total zerzaust, sein Hemd hängt ihm halb aus der Hose und ist vollkommen zerknittert. Außerdem ist es übersät mit hellroten und braunen Flecken.
»Hattest du Besuch?«, will ich wissen und stelle meinen Rotwein und die Schachtel mit Schokofrüchten auf der
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