Mein mutiges Herz
nicht wirklich liebte, würde er nach der Hochzeit begreifen, wie sehr sie ihn liebte, und seine Liebe zu ihr würde wachsen.
Im Übrigen war sie mittlerweile zu der Einsicht gekommen, dass sie sehr wohl zueinanderpassten – entgegen ihrer ursprünglichen Meinung. Thors besonnene Art war die ideale Ergänzung zu ihrem spontanen überschwänglichen Wesen. Beide liebten Pferde und das Leben auf dem Land. Zugegeben, er konnte gelegentlich störrisch und fordernd sein. Andererseits neigte sie seit jeher dazu, die Männer ihres Bekanntenkreises zu dominieren und ihnen ihre Meinung aufzudrängen. Das würde Thor nicht zulassen.
Sie lächelte in sich hinein, als sie die Tür zum Frühstückszimmer öffnete, einen sonnendurchfluteten hellen Raum mit Blick in den Garten. Rudy saß allein am Frühstückstisch und ließ sich gebratene Eier mit Würstchen schmecken.
„Morgen, Schwesterherz.“ Er hob kurz den Kopf und widmete sich wieder der Lektüre der London Times .
„Guten Morgen.“ Lindsey trat an die Anrichte, hob den Deckel einer Silberschüssel auf einem Rechaud und legte sich eine kleine Portion Rühreier vor.
Vielleicht ist das der richtige Augenblick, um mit Rudy über Stephen Camden zu sprechen, dachte sie und setzte sich zu ihm. Ein Diener brachte ihr eine Tasse Tee, sie nippte daran und beobachtete ihren Bruder, der die Nase weiterhin in die Zeitung steckte. Sein sandfarbenes Haar war ein wenig zerzaust; er wirkte noch verschlafen, aber nicht übernächtigt und verquollen wie früher nach einer durchzechten Nacht.
„Ist es spät geworden, letzte Nacht?“, fragte sie und bestrich eine Scheibe Toast dünn mit Butter.
„Eigentlich nicht“, antwortete Rudy achselzuckend. „Ich war kurz im Club, anschließend im Golden Pheasant und spielte ein paar Runden Karten.“
Im Begriff, die Tasse zum Mund zu führen, hielt sie inne. Im Golden Pheasant. Sie hatte befürchtet, dass er sich nicht ewig von Covent Garden fernhalten würde, immerhin das Amüsierviertel der Stadt. „Ich dachte, du wolltest dich vom Glücksspiel fernhalten?“
Seit seiner Verhaftung und den Tagen im Gefängnis schien Rudy eine Spur erwachsener geworden zu sein, etwas weniger geneigt, sein Leben vorsätzlich zu zerstören. Lindsey konnte nur hoffen, dass er seine Vorsätze bei der Rückkehr nach London nicht vergessen hatte.
„Kein Grund zur Sorge, Schwesterchen. Ich habe ein paar Runden gespielt, aber nur zum Spaß. Ich bin nicht so dumm, wie du vielleicht denkst. Ich weiß, dass ich Verantwortung übernehmen muss, und werde mich nicht davor drücken.“
Sie lächelte erleichtert. „Freut mich, zu hören.“ Sie knabberte an ihrem Toast, trank einen Schluck Tee und dachte, dass er ihr damit die ideale Eröffnung für ihr gewünschtes Gesprächsthema gegeben hatte. „Du hast vorhin deinen Club erwähnt. Ist Stephen Camden nicht auch Mitglied bei White’s? Seht ihr euch dort gelegentlich?“
Rudy schluckte den Bissen hinunter. „Er ist ziemlich häufig im Club, sozusagen seine zweite Wohnung, wenn er in der Stadt ist.“
„Wenn ich nicht irre, hält er sich momentan in London auf. Jedenfalls hat er es erwähnt, als wir in Merrick Park waren.“
„Ja, ich habe ihn gestern Abend gesehen.“
Sie bemühte sich, ihr Interesse zu verbergen, stocherte in ihren Rühreiern herum und nahm einen Bissen auf die Gabel. „Du kannst dich nicht zufällig erinnern, ob du in der Nacht, in der Phoebe Carter ermordet wurde, auch im Club gewesen bist?“
Er hob den Blick. „Ich war da … ziemlich früh am Abend. Das ist beinahe alles, woran ich mich in dieser Nacht noch erinnere.“
„Erinnerst du dich, ob Stephen auch anwesend war?“
Rudys Kopf fuhr ruckartig hoch. „Ja, er war da, ich habe ihn in jener Nacht gesehen. Wie gesagt, ich erinnere mich nicht mehr daran, was später geschah, aber zu Beginn des Abends war ich noch klar im Kopf.“
„Hast du eine Ahnung, wann er ging oder wohin er nach dem Club gehen wollte?“
Rudy betrachtete sie argwöhnisch. „Wieso dieses plötzliche Interesse an Merrick? Und was soll er mit Phoebe Carter zu tun gehabt haben?“
Lindsey atmete tief durch und straffte die Schultern. „Es besteht die Möglichkeit, dass Stephen irgendwie in die Covent Garden Mordfälle verwickelt ist.“
„Wovon redest du?“
„Bei meinem Aufenthalt in Renhurst hörte ich Gerüchte. Die Leute im Dorf munkeln, Stephen habe eine junge Frau namens Penelope Barker getötet. Und dann tauchten Gerüchte auf, die ihn mit
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