Mein mutiges Herz
verzichten. Aber könnte sie je wirklich glücklich werden als Ehefrau eines Mannes, dem nichts an dem Leben lag, das sie führte? Ein Ehemann, den ihre Familie und die Gesellschaftskreise, in denen sie verkehrte, niemals akzeptieren würden? Ein Ehemann, mit dem sie nichts verband, abgesehen von ihrer gegenseitigen erotischen Anziehungskraft?
Und ihre Kinder? Würde sie es über sich bringen, ihren Kindern das vorzuenthalten, was ihnen in einer standesgemäßen Ehe zustand?
Lindsey seufzte. Welch ein Glück, dass sie nicht in ihn verliebt war, und er nicht in sie. Und so sollte es auch bleiben. Sie genossen ihre gemeinsamen leidenschaftlichen Nächte, die sie nie vergessen würde. Aber das war auch alles, mehr war ihr nicht gegönnt.
Während die Karosse sich Renhurst näherte, versuchte Lindsey, die wehmütige Trauer in ihrem Herzen zu verdrängen.
Thor klopfte an die Tür der Büroräume von Capital Ventures, einem Unternehmen, das neben anderen Investitionen auch die Aktien der A&H Eisenbahngesellschaft betreute. Mit dem Geld, das Thor an beiden Arbeitsplätzen verdient und von dem er einen Teil auf die Seite gelegt hatte, sowie mit seinen Dividenden aus Wallhall Shipping hatte er vor etwa einem Jahr ein stattliches Aktienpaket erworben, als die Eisenbahnschienen sich noch im Bau befanden. Mittlerweile hatte die Eisenbahngesellschaft neue Aktien auf den Markt geworfen.
Vor seiner Investition hatte er sich gewissenhaft über das Unternehmen erkundigt, über die Geschäftsführung und welche Dienstleistungen die Firma entlang der Eisenbahnstrecke bot. All diese Informationen hatten ihn zu der Überzeugung gebracht, dass A&H Railway auf soliden Füßen stand und ihm ein gutes Einkommen sicherte.
Nun, ein Jahr später, erwies sich sein Geschäftssinn als korrekt, wie die positiven Börsenberichte der Zeitungen bestätigten. Die Eisenbahnlinie war fertiggestellt, der Zugverkehr aufgenommen, und die Gesellschaft machte hervorragende Gewinne.
Diese positiven Berichte veranlassten ihn, sich zu fragen, wieso er nie ein Wort von Capital Ventures gehört hatte – aus diesem Grund suchte er nun persönlich das Büro der Firma auf.
Thor betrat einen mahagonigetäfelten Empfangsraum, wesentlich eleganter eingerichtet als vor einem Jahr. Er trat an einen polierten Schreibtisch, an dem ein blonder junger Mann saß und schrieb.
Der junge Mann sah auf und lächelte freundlich. „Kann ich Ihnen helfen, Sir?“
„Ich wünsche Mr. Wilkins zu sprechen.“
„Und wen darf ich melden?“
„Thorolf Draugr.“
„Und in welcher Angelegenheit wünschen Sie Mr. Wilkins zu sprechen?“
„Wegen meiner A&H Eisenbahnaktien.“
„Sehr wohl. Einen Moment bitte, ich sehe nach, ob Mr. Wilkins im Hause ist.“ Der junge Mann verschwand hinter einer reich geschnitzten Mahagonitür, welche die schlichte Tür vom letzten Jahr ersetzt hatte, und kehrte wenige Minuten später wieder zurück.
„Es tut mir schrecklich leid. Ich dachte, Mr. Wilkins sei in seinem Büro. Offenbar ist er zu einer Besprechung außer Haus gerufen worden.“ Sein Lächeln wirkte mittlerweile ein wenig gequält.
Thor furchte die Stirn. Der unstete Blick des jungen Mannes verriet ihm, dass etwas nicht stimmte. „Sind Sie sicher, dass er nicht im Haus ist?“
„Tut mir leid, aber wie gesagt, er ist nicht in seinem Büro. Morgen treffen Sie ihn gewiss an. Wenn Sie wünschen, trage ich Sie in seinem Terminkalender ein.“
Wilkins hatte offenbar erst vor Kurzem das Büro verlassen. Thor wollte nicht später als am nächsten Vormittag nach Renhurst abreisen. „Ich komme morgen um acht Uhr wieder und erwarte, Mr. Wilkins anzutreffen.“
Der junge Mann eilte hinter seinen Schreibtisch. „Ich will nur rasch seine Termine überprüfen …“
„Sagen Sie ihm, ich bin um Punkt acht hier und muss ihn sprechen.“
Dem jungen Mann fiel die Kinnlade herunter, aber Thor war bereits an der Tür. Er hatte das unangenehme Gefühl, Wilkins ging ihm aus dem Weg, und das gefiel ihm ganz und gar nicht.
Morgen würde er sich den Mann vornehmen und ihm die Fragen stellen, die ihn beunruhigten.
Und Wilkins würde gut daran tun, die richtigen Antworten parat zu haben.
Am späten Nachmittag erreichte Lindsey Renhurst. Auf der Fahrt durch das Dorf Foxgrove konnte sie das stattliche Herrenhaus aus Cotswoldgestein auf dem sanften Hügel bereits sehen, im georgianischen Stil erbaut mit einem Walmdach aus grauem Schiefer und zwei Seitenflügeln, die sich nach hinten
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