Mein Offizier und Gentleman
töricht sein können, ein Kind in ihr zu sehen? Sie war eine wunderschöne, lebenssprühende, begehrenswerte Frau – noch jung und unschuldig, aber ganz zweifellos eine Frau.
„Ich hoffe, Lucy“, sagte er und vergaß, überwältigt wie er gerade war, ganz die formelle Anrede, „Sie werden mir heute Abend mindestens drei Tänze gewähren.“
„Ja, gerne, wenn Sie es wünschen.“ Ihr Puls raste plötzlich, denn so hatte er sie noch nie angesehen. „Bestimmt wird es sehr lustig werden, denken Sie nicht?“
„Ja, bestimmt“, bestätigte er lächelnd. Sie war schön und stand an der Schwelle zur Reife, bereit für die Liebe – das hatte ihm sein eigener Körper gerade unerwartet, aber unmissverständlich zu verstehen gegeben. Doch er glaubte, er sei zu alt für sie – an Jahren und an Erfahrung. Zu viele bittere Lektionen hatte ihn das Leben gelehrt. Verdiente sie nicht einen jüngeren Mann?
Lucy ahnte nichts von Jacks Gedanken, doch sie spürte den Wandel seiner Stimmung und konzentrierte sich auf die Zügel, bis es Zeit zur Heimfahrt war.
Vor dem Haus angekommen, sprang Jack vom Wagen, warf dem Stallburschen die Zügel zu und reichte Lucy stützend eine Hand. Als sie absteigen wollte, ver fi ng sich ihr Absatz im Saum ihres Kleides, sodass sie strauchelte und vornüber fi el. Hätte er sie nicht in seinen Armen aufgefangen, wäre sie gestürzt. Verwirrt spürte Lucy, wie er sie fest an sich drückte. Mit großen Augen schaute sie zu ihm auf, und als sie das verhalten glimmende Feuer in seinem Blick sah, begann ihr Herz laut und heftig zu pochen. Plötzlich wusste sie, wären sie nicht auf offener Straße gewesen, er hätte sie geküsst.
Schließlich stellte er sie sicher auf die Füße und ließ sie los. Atemlos sagte sie: „Verzeihung, wie dumm von mir. Ich weiß nicht, wie das passieren konnte.“
„Keine Ursache.“ Nur schwer widerstand er dem Wunsch, ihre lockenden Lippen zu küssen. „Entschuldigen Sie mich nun. Bis heute Abend, Lucy.“
„Ja, Harcourt“, sagte Lucy. Ihr Lächeln war scheu und fragend. Fast gegen seinen Willen hob Jack ihre Hand und hauchte ein Kuss darauf.
„Bis heute Abend“, wiederholte er.
„Ja …“ Mit angehaltenem Atem wartete sie, bis er die Zügel wieder an sich genommen hatte, auf dem Sitz Platz nahm und davonfuhr, ehe sie ins Haus ging. Ihr Herz schien doppelt so schnell zu schlagen wie sonst. Sie hatte sich doch nicht geirrt? Er hatte sie angesehen, als wollte er sie küssen, oder? Wo Jacks Lippen ihre Hand berührt hatten, prickelte es immer noch, und in dem Augenblick hatte sie gewünscht, er würde stattdessen ihre Lippen küssen.
Bisher hatte Lucy ihre Gefühle für Lord Harcourt im Zaum gehalten, da sie glaubte, er sehe sie nicht als erwachsene Frau – doch jetzt hatte sich etwas geändert. Sie war sich sicher, dass er sie voller Leidenschaft angesehen hatte. Unwillkürlich erwachte die Hoffnung in ihr. Nichts würde ihnen im Wege stehen, wenn er ihr gewogen war, denn ihre Familie würde ihn kaum für unpassend halten.
„Lucy, komm in den Kleinen Salon“, bat Mrs. Horne mit ernster Miene, als Lucy, nachdem sie sich umgekleidet hatte, hinunterkam. „Ich muss mit dir sprechen.“
„Was ist denn, Mama?“, fragte Lucy besorgt.
„Liebes, Tante Bertha hat geschrieben; sie kränkelt, deshalb denke ich, ich sollte sofort zu ihr heimkehren. Nach Vaters Tod hat sie so viel für uns getan, deshalb möchte ich sie auf keinen Fall im Stich lassen. Aber keine Angst, du brauchst mich nicht zu begleiten. Gegen Marianne und Drew als deine Chaperons kann niemand etwas einzuwenden haben, sie tun dem Anstand genüge. Bei ihnen weiß ich dich in sicherer Hut.“
„Danke, Mama“, sagte Lucy, die gerade jetzt nur ungern abgereist wäre. „Aber sag Tante Bertha, wie leid es mir tut, dass es ihr nicht gutgeht.“
„Kind, ich weiß, du wirst brav sein, während ich fort bin. Doch ich muss dir noch etwas sagen.“
„Ja, Mama?“, fragte Lucy unsicher.
„Es betrifft Lord Harcourt. Ohne Zweifel ist er ein Gentleman, und du bist in seiner Gesellschaft gut aufgehoben – andernfalls hätte ich nicht zugelassen, dass du mit ihm ausfährst – jedoch habe ich bedenkliche Gerüchte gehört, Liebes. Eigentlich sollte ich so etwas mit dir nicht besprechen, allein – ich meine, du müsstest es wissen …“ Verlegen hielt sie inne. Sie vermutete, dass Lucy sich zu Lord Harcourt hingezogen fühlte, doch es wäre ihr im Traum nicht eingefallen, dieses Thema vor ihrer
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