Mein Wille geschehe
Herrn.«
»Ich kam mir vor wie einer der bedeutendsten
Menschen unter der Sonne«, berichtete Rose ih-
rer Enkelin. »Möchten Sie ein Glas Champag-
ner?«, fragte Heal. »Ein Schlückchen vielleicht«, antwortete Rose schüchtern. Sein Assistent ent-korkte eine Flasche Dom Perignon, die in einem
Sektkühler stand. »Auf unsere Begegnung und
auf die großartige Zukunft, die vor uns liegt,
wenn sie so treue Menschen wie Sie für uns be-
reithält.«
Rose trank selten Alkohol, und der Champagner
kitzelte sie in der Nase. »Meine Güte«, sagte sie und kicherte ein bisschen. »Das macht Spaß.«
Heal nickte seinem Assistenten zu, und unverse-
hens befand sich eine Platte mit Kaviar neben
Rose. Sie gab ein wenig davon auf einen kleinen
Cracker und verschlang ihn mit einem Bissen.
»Nun fühle ich mich wirklich wie etwas Besonde-
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res«, sagte sie.
»Sie wissen gar nicht, was für ein besonderer
Mensch Sie sind, meine Dame«, sagte Heal und
bedeutete seinem Assistenten, dass er Roses
Glas nachfüllen sollte. »Nur in Ihren Händen liegt es, etwas enorm Wichtiges für die Menschheit zu
vollbringen.«
»Tatsächlich?«, fragte Rose.
»O ja«, bekräftigte er. »Sie alleine können den
Millionen eine Stimme verleihen, die alljährlich zu Tode kommen. Sie alleine können für das Recht
auf Leben eintreten.«
»Aber wie soll ich das denn tun?«, rief Rose aus.
Seine überschwänglichen Komplimente und die
zwei Gläser Champagner hatten sie in eine Art
Schwebezustand versetzt. »Indem Sie der Welt
mitteilen, dass ein jeder das Recht darauf hat,
geboren zu werden«, gab er zur Antwort. »Indem
Sie mit Ihrem großen Herzen andere davon über-
zeugen, dass man den Einsatz für das Leben Un-
geborener unterstützen und nicht verdammen
soll. Und dass eine Tat in diesem Sinn, zur Ret-
tung Ungeborener, gepriesen und nicht ge-
schmäht werden soll.«
»Was wollen Sie damit sagen, Reverend?«
»Dass es ganz bei Ihnen liegt, Rose. Bei keinem
anderen. Sie müssen für all jene sprechen, die
keine Stimme haben.«
»Aber ich habe den Kampf gegen die Abtreibung
immer unterstützt, das wissen Sie doch.«
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»Aber gewiss, liebe Rose. Doch nun gewährt Ih-
nen der Herr einen einzigartigen Augenblick, eine Gelegenheit zur Vereinigung mit ihm. Wenn dieser Augenblick kommt, sollten Sie ihn nutzen,
Rose. Treten Sie der Menschheit mit dem Schwert
der Gerechtigkeit entgegen. Sie gehören zu sei-
nen kostbaren Kindern, und er harrt Ihrer Taten.
Er spricht zu mir und durch mich, er spricht zu
Ihnen. Nehmen Sie meine Hand, Rose. Fühlen Sie
Ihn, fühlen Sie Seine Liebe, Seinen Mut, Seine
Kraft, Seine Ehrfurcht vor der Heiligkeit des Le-
bens, wenn Er Ihnen sagt, dass Sie Corey Latham
nicht verurteilen dürfen, weil er in Seinem Namen gehandelt hat.«
Am Sonntag schlief Allison Ackerman lange und
erwachte erst, als die Herbstsonne auf ihr Kissen schien. Die Verhandlung war bis Dienstag vertagt, und Allison war dankbar, drei Tage Zeit zu
haben, um die furchtbaren Bilder aus ihrem Kopf
zu verdrängen. Sie stellte sich einen Flur vor, in dem sich eine Tür nach der anderen schloss, so
dass sich die Erinnerung an das Grauen immer
weiter entfernte. Das brauchte sie, um am Diens-
tagmorgen mit neuen Kräften in den Gerichtssaal
zurückkehren zu können. Doch vorerst war Sonn-
tag, und Allison räkelte sich behaglich. Zwei ihrer Hunde schliefen am Fußende des Bettes und
schnarchten leise. Sie warf einen Blick auf ihren Wecker auf dem Nachttisch. Zehn nach zehn,
schon fast Mittag. Sie setzte sich auf und schaute 394
aus dem Fenster. Die Pferde grasten friedlich und würden es ihr vermutlich verzeihen, wenn sie
noch etwas länger auf ihre morgendliche Ration
Heu, Hafer und Streicheleinheiten warten muss-
ten. Allison ließ sich wieder in die Kissen sinken und hatte plötzlich das Bild eines anderthalbjährigen toten Babys vor Augen. Das kleine Mädchen
war von einem herabfallenden Balken wie ein In-
sekt zerquetscht worden. Der Gerichtsmediziner
hatte ausgesagt, dass sie keinen intakten Kno-
chen mehr im Körper gehabt hatte. Dieses Bild
hatte sich Allison am nachhaltigsten eingeprägt.
Es war irgendwie widersinnig, dass eine Frau wie
sie, die ihren Lebensunterhalt mit der Entwick-
lung abscheulichster Mordarten verdiente, sich
mit der Wirklichkeit so schwer tat. Allerdings war der Hill-House-Anschlag tatsächlich schlimmer als alles, was sie bislang ersonnen hatte. Doch
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