Mein Wille geschehe
vor
allem war es ein gewaltiger Unterschied, ob man
sich einen Mord ausdachte, um andere Leute zu
unterhalten, oder ob man es mit einem wirklichen
Mord an einem anderthalbjährigen Baby zu tun
hatte, das sterben musste, weil jemand ein Ex-
empel statuieren wollte.
Allison dachte zum eisten Mal in ihrem Leben
darüber nach, ob ihre Darstellungen der Morde
einer Missachtung realer Opfer gleichkamen. Für
eine Frau, die zwei weitere Verträge für Bücher
dieser Art unterschrieben hatte, war das kein an-
genehmer Gedanke.
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Sie seufzte tief, als plötzlich die Klingel ertönte.
Als Allison sich einen Bademantel übergeworfen
hatte und die Treppe hinuntergeeilt war, sah sie
gerade noch einen sandfarbenen Wagen davon-
fahren. Sie öffnete die Tür, um ihm nachzusehen,
und ein großer brauner Umschlag fiel ihr vor die
Füße. Allison hob ihn auf. Nur ihr Name stand
darauf, weiter nichts. Sie schloss die Tür, nahm
den Umschlag mit in die Küche und legte ihn auf
den Tisch. Erst nachdem sie die Kaffeemaschine
eingeschaltet, sich ein Glas Orangensaft einge-
gossen und einen Muffin in den Toaster gesteckt
hatte, griff sie wieder nach dem Umschlag und
schlitzte ihn mit einem Brotmesser auf.
Er enthielt circa dreißig Hochglanzfotos in einem Format von zwanzig auf fünfundzwanzig Zentimeter. Darauf abgebildet waren tote Föten, von de-
nen Allison wohl annehmen sollte, dass sie bei
Abtreibungen aus dem Mutterleib entfernt worden
waren.
Ein Zettel mit folgendem Text lag bei: »Ist das
Leben von einhundertsechsundsiebzig Menschen,
auch wenn sie teilweise unschuldig waren, wirk-
lich ein zu hoher Preis, wenn man dafür andert-
halb Millionen Leben retten kann, die sonst herz-
los getötet werden, bevor sie ihren eisten Atem-
zug tun?« Die Bilder waren entsetzlich anzu-
schauen, und der Text war überzeugend. Doch
beides ließ Allison kalt. Für sie begann Leben in dem Moment, in dem ein Kind zur Welt kam.
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Auch ihre eigene Schwangerschaft, als sie ihre
Tochter in sich zappeln und wachsen fühlte, hatte daran nichts geändert.
Bei Stuart Dünn in Renton klingelte es kurz nach
zwölf Uhr mittags.
»Ich mach auf«, schrie sein elfjähriger Sohn und
polterte die Treppe hinunter. Kurz darauf schlit-
terte er mit einem dicken braunen Umschlag in
die Küche.
»Wer war da?«, fragte Stuart, dem die Tränen
über das Gesicht liefen, weil er gerade Zwiebeln
schnitt. »Keiner«, antwortete der Junge, »bloß
der Umschlag da.« Er reichte ihn seinem Vater
und rannte wieder hinaus. »Was ist das?«, fragte
Stuarts Frau.
»Keine Ahnung«, erwiderte der Lehrer und wisch-
te sich die Tränen aus dem Gesicht.
Sein Name stand auf dem Umschlag, aber keine
Adresse und kein Absender. Er riss ihn auf und
zog einen Stapel Fotos heraus, die gleichen, die
Allison Ackerman erhalten hatte. Auf dem beilie-
genden Zettel stand: »Was Sie vor Gericht gese-
hen haben, war grauenhaft, aber kann es grau-
enhafter sein als das, was diesen armen Seelen
geschah und den Millionen von Unschuldigen, de-
nen dies auch widerfährt? Bitte denken Sie an
jene, die keine Stimme haben. Nur Sie können
nun für sie sprechen.«
»O mein Gott«, murmelte Stuart.
»Was ist los?«, fragte seine Frau beunruhigt, als 397
sie sah, wie bleich er geworden war.
Stuart schüttelte den Kopf und schob ihr die Fo-
tos über den Küchentresen zu.
»Aber wer schickt uns denn so etwas?«, sagte
sie, aufgebracht über dieses Eindringen in ihre
Intimsphäre. »Wir treten nicht für die Abtreibung ein. Das haben wir noch nie getan.«
»Was mich hauptsächlich interessiert, ist, woher
sie das wissen.«
»Wer? Was?«
»Die Identität der Geschworenen wird geheim
gehalten«, antwortete Stuart. »Aber jemand
weiß, dass ich dazugehöre. Nur deshalb konnte
man mir diesen Umschlag schicken.« Seine Frau
begriff. »Natürlich«, sagte sie, sichtlich erleichtert. »Was willst du tun?«
»Ich denke, ich muss es dem Richter sagen«,
erwiderte der Geschichtslehrer.
»Kann es sein, dass sie dich dann nicht mehr als
Geschworenen nehmen?«
Stuart überlegte einen Moment. »Ja, das kann
schon sein. Aber das ändert nichts. Ich muss es
ihm trotzdem sagen.«
»Aber ist das richtig, dass jemand sich solche
Informationen verschafft?«
»Nein, das ist es eben nicht.«
»Aber warum solltest du dafür bezahlen? Du bist
ein ehrlicher Mann, und du hättest ein gerechtes
und unvoreingenommenes Urteil
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