Mein Wille geschehe
Damen und Herren, Sie haben mor-
gen Vormittag frei«, teilte der Richter den Ge-
schworenen mit. »Wir sehen uns hier alle morgen
um ein Uhr wieder. Nicht wahr, Mr Ayres?«
»Ja, Euer Ehren«, bestätigte Brian.
Um sechs Uhr abends klingelte Dana an Craig
Jessups Haus am Capitol Hill. Louise Jessup öff-
nete ihr. Sie hatte helles, schimmerndes Haar,
klare wache Augen und eine rundliche Figur und
wirkte äußerst sympathisch. Ihre lebhafte Art
stand ganz im Gegensatz zum Verhalten ihres
Gatten, der eher ruhig und zurückhaltend war.
»Kommen Sie doch rein«, sagte sie mit einem
herzlichen Lächeln. »Wäre es Ihnen recht, wenn
ich Dana zu Ihnen sage? Ich habe im Lauf der
Jahre so viel von Ihnen gehört, dass es mir vor-
kommt, als ob ich Sie persönlich kenne.« Dana
lächelte. »Aber bitte. Genau das wollte ich auch
vorschlagen.«
»Craig ist in seinem Büro«, sagte Louise lächelnd.
»Er sagte, ich soll Sie gleich hinaufbringen.«
Jessups Büro im Obergeschoss des Hauses war
klein, und zwischen dem voll gestopften Bücher-
regal, dem alten Schreibtisch, auf dem sich Bü-
cher, Akten und Papierstapel türmten, und dem
betagten Liegesessel musste man sich förmlich
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hindurchzwängen. Jessup wies auf seinen hoch
geschätzten Liegesessel.
»Tut mir Leid, dass wir es so machen mussten«,
sagte er. »Aber Sie werden gleich verstehen, wa-
rum.«
»Naja, Sie können sich jedenfalls meiner Auf-
merksamkeit sicher sein«, erwiderte sie vorsich-
tig.
»Ich bin der Sache mit der Geschworenenliste
nachgegangen«, erklärte er ohne Umschweife.
»Ich weiß jetzt, wer sie rausgegeben hat.«
Dana runzelte die Stirn. »Wieso habe ich das Ge-
fühl, dass ich das eigentlich nicht hören möch-
te?«, murmelte sie. »Ich habe seit einigen Jahren einen Kontakt bei den AIM-Leuten«, erläuterte er.
»Es hat eine Weile gedauert, bis ich ihn wieder
aktiviert hatte, aber er hat mich an jemanden
verwiesen, der mich wiederum weitergereicht
hat. Diese Person wusste Bescheid und bestätigte
mir, dass die Liste dem AIM zwei Tage nach Ver-
eidigung der Geschworenen vorlag.«
»Zwei Tage danach?«
Er nickte. »Als ich das wusste, musste ich die
Spur nur noch zurückverfolgen.«
In diesem Augenblick kam Louise mit zwei damp-
fenden Bechern Tee herein. Sie stellte den einen
ihrem Mann hin, den anderen reichte sie Dana.
»Ich glaube, den werden Sie brauchen können«,
murmelte sie.
Dana seufzte. Auf Grund der gewünschten Aus-
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wirkungen der Fotoaktion war sie bereits von al-
leine zu dem Schluss gekommen, dass jemand
vom Büro der Staatsanwaltschaft die Liste he-
rausgegeben haben musste, und nach vierzehn
Jahren Freundschaft wollte sie diesen Namen
jetzt nicht hören. »Wer ist es?«, fragte sie dumpf.
Jessup zog ein Blatt Papier aus einer Akte auf
dem Tisch, obwohl er den Namen nicht ablesen
musste. »Charles Ramsey«, sagte er.
»Wer?«, fragte Dana, die sicher war, sich verhört zu haben. »Charles Ramsey«, wiederholte der
Detektiv unmissverständlich.
Dana blinzelte. Jessup teilte ihr tatsächlich mit, dass der zweite Stellvertreter der Verteidigung in diesem Prozess, der altehrwürdige Seniorpartner
der Kanzlei Cotter, Boland und Grace, nicht nur
das Gesetz gebrochen, sondern auch ein Doku-
ment weitergegeben hatte, das zur Verurteilung
ihres gemeinsamen Mandanten führen konnte.
Das war völlig widersinnig.
»Das ist ausgeschlossen«, sagte sie.
»Das dachte ich zuerst auch«, gab Jessup zu.
»Deshalb habe ich es ein zweites Mal und ein
drittes Mal von allen Seiten abgesichert. Und leider kam ich jedes Mal zum selben Ergebnis.«
»Aber er muss verrückt sein, wenn er so was
macht.« Der Detektiv zuckte die Achseln. »Oder
senil.« Dana sank in den Sessel zurück. Sie wuss-
te nicht mehr, was sie denken sollte. Craig Jessup arbeitete äußerst sorgfältig und umsichtig, das
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wusste sie, und er irrte sich nie.
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Dana lag auf dem Sofa und grübelte. Es war fast
drei Uhr morgens, und Sam und Molly schliefen
schon seit Stunden. Dana unternahm gar nicht
erst den Versuch zu schlafen. Zuerst musste sie
entscheiden, was sie tun sollte. Es war nahe lie-
gend, mit dieser Information sofort zu Paul Cotter zu gehen. Er würde Ramsey natürlich sofort von
dem Prozess abziehen. Aber waren sie nicht noch
zu weiteren Schritten verpflichtet? Hatten sie als Vertreter der Jurisdiktion nicht auch die Aufgabe, die Beeinflussung von Geschworenen zu
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