Mein Wille geschehe
wirkenden Appara-tur hing, die ihren Körper nach oben oder unten
drehte, und er fürchtete ständig, sie könne her-
ausgleiten. Im Augenblick war ihr Gesicht nach
oben gewandt. Er beugte sich vor und legte ihr
die Hand auf die Wange.
»Ich hab was geträumt«, murmelte sie. Sie
schien halb wach zu sein und zu wissen, dass er
59
bei ihr war. »Ich hab geträumt, wir hätten einen
kleinen Jungen, der braune Augen und blaue
Haare hatte. Ist das nicht komisch? Ich habe dem
Arzt gesagt, das könne doch nicht sein, aber er
meinte, so sei es; wir hätten eben einen ganz
besonderen Jungen bekommen.«
Andy fasste ihre Hand fester. »Wie schön«, raun-
te er. Sie schlief wieder ein. Sie kannten sich seit zwei Jahren und waren seit sechs Monaten verlobt, und er hatte immer wieder gespürt, wie viel Betsy daran lag, eine große Familie zu haben; sie selbst war mit acht Jahren Waise geworden. Er
seufzte. Er musste ihr sagen, dass aus diesem
Traum nichts werden würde, aber jetzt war noch
nicht der richtige Zeitpunkt dafür.
Es war ein merkwürdiger Zufall, dass Shelly Weld
und Denise Romanidis, die ihre letzten Minuten
gemeinsam verbracht hatten, am selben Tag bei-
gesetzt wurden – Shelly nach einem feierlichen
und aufwändig zelebrierten, katholischen Gottes-
dienst, Denise nach einer stillen schlichten grie-chischorthodoxen Trauerfeier.
Die Gerichtsmediziner hatten fünf Tage ge-
braucht, um die Leichenteile der beiden Frauen
zusammenzusetzen, und sie hofften inständig,
dass sie nichts falsch gemacht hatten. In beiden
Fällen wurden die Särge verschlossen, und die
Toten wurden eingeäschert. Shellys Eltern ent-
schieden sich dafür, die Asche ihrer Tochter über dem Puget Sound auszustreuen. Die sterblichen
60
Überreste von Denise wurden in einer Familien-
gruft beigesetzt.
Am Gottesdienst für Shelly Weld in Seattle nahm
der Bürgermeister teil. Die Trauergäste der Fami-
lie Romanidis bemerkten zu ihrer Verblüffung den
Gouverneur in der Kirche in Northgate.
Joe Romanidis, der neben seinen drei Kindern
stand, wurde von seinen Gefühlen überwältigt,
als der Gouverneur zu ihm trat und ihn umarmte.
Für die Medien war das ein gefundenes Fressen.
In den Abendnachrichten wurde diese Szene ge-
zeigt, und am nächsten Morgen sah man sie auf
der Titelseite des Post-Intelligencer.
»Hey, Paps, du bist berühmt«, sagte sein drei-
zehnjähriger Sohn zu ihm.
»Ich will nicht berühmt sein«, sagte Joe mit Trä-
nen in den Augen. »Ich will nur, dass sie den
Dreckskerl erwischen, der das getan hat.«
Frances Stocker wurde von ihrer Tochter im
Krankenhaus abgeholt und nach Whidbey Island
chauffiert. Die Beine der Psychologin waren bis
zur Hüfte eingegipst. »Sie haben so viel Stahl in den Beinen«, witzelte der Arzt, »dass Sie sich
unbedingt von Magneten fern halten sollten.« Er
war sehr stolz auf seine Arbeit. Zu Anfang war er keineswegs sicher gewesen, ob es ihm möglich
sein würde, ihre Beine zu retten.
»Ich will dir nicht zur Last fallen«, sagte Frances zu ihrer Tochter. »Sobald ich mich eigenständig
bewegen kann, kann ich auch nach Hause.« Man
61
hatte ihr im Krankenhaus eine Ration Antibiotika, ein Rezept für Schmerzmittel und ein Paar robus-te Metallkrücken mit auf den Weg gegeben.
»Mam, du fällst mir nicht zur Last«, erwiderte
Gail Stocker. »Du bleibst bei mir, bis der Arzt
meint, du könntest alleine sein.«
»Die Ärzte sind doch immer übervorsichtig«, sag-
te Frances und schniefte. »Eine Woche, dann
werde ich prima zurechtkommen mit diesen Krü-
cken.« Gail seufzte. Ihre Mutter hörte nie auf andere Leute und am wenigsten auf ihre eigene
Tochter. »Ist gut«, sagte sie. »Ich melde dich
zum Marathon in Boston an.«
»Ich will nur nicht, dass du mich bedienen
musst«, brummte Frances. »Du hast genug um
die Ohren mit deiner Arbeit und den vielen Tie-
ren. Ich weiß nicht, warum du auch noch meinst,
mich pflegen zu müssen.«
»Weil ich das gut kann«, antwortete die Tierärz-
tin. »Zum ersten Mal im Leben kann ich dir mal
wirklich nützlich sein. Gib mir doch die Chance.«
Frances lächelte in sich hinein. Ganz die Mutter, dachte sie – dynamisch, selbstständig und dick-köpfig. Doch tatsächlich war die Vorstellung, in
dieser Lebenslage alleine zu sein, nicht besonders verlockend. Es tat gut, jemanden in seiner Nähe
zu wissen, vor allem in den stillen dunklen Näch-
ten, wenn sie wach lag, mal schwitzend,
Weitere Kostenlose Bücher