Mein Wille geschehe
»Du musst
dich ausruhen, Mutter«, sagte sie. »Noch nicht
reden.« Doch Ruth schob auf diese energische Art
das Kinn vor, die ihrer Familie nur zu vertraut
war, stützte sich auf und fragte hartnäckig: »Wie viele?«
Ihre Tochter legte ihr die Hände auf die Schultern und drückte sie sachte zurück auf ihr Kissen.
Harry seufzte. »Zehn Mitarbeiter sind umgekom-
men«, sagte er.
»Und von den Kindern?«
Die Tochter schüttelte heftig den Kopf, doch Har-
ry zuckte die Achseln. »Sechsundfünfzig«, sagte
er.
Ruth Zelkins Welt, zuvor schon grau, wurde nun
gänzlich schwarz.
Das Kinderzimmer, in dem Jason Holman den
größten Teil seiner kurzen Kindheit verbracht hat-te, war dunkel. Die schweren Vorhänge, die das
Tageslicht verdrängt hatten, damit er ungestört
seinen Mittagsschlaf machen konnte, waren zu-
gezogen. Janet Holman saß in dem großen
Schaukelstuhl aus Ahornholz, in dem sie ihren
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Sohn gestillt, gewiegt und getröstet hatte, wenn
er sich fürchtete oder ihm etwas wehtat. Diesen
Raum hatte sie seit dem Mittwochabend nicht
mehr verlassen.
Sie brauchte kein Licht, um sein Lächeln zu se-
hen, wenn sie ihn aus seiner Wiege gehoben hat-
te, oder die kleinen Arme, die sich nach ihr aus-
streckten, Zeichen seines bedingungslosen Glau-
bens, dass sie ihn vor allem Bösen beschützen
würde, das in der Welt lauerte. Janet Holman
wusste nicht mehr, ob es Tag oder Nacht war,
und es war ihr auch egal. Wer die große Eigen-
tumswohnung der Holmans betrat, ging leise und
flüsterte, doch das wäre nicht nötig gewesen,
denn Janet nahm keine Geräusche mehr wahr.
Sie saß nur da und schaukelte vor und zurück,
wie sie es getan hatte, wenn Jason unruhig ge-
wesen war, und starrte in den dunklen Raum, in
eine Welt, die so unerträglich schmerzhaft und
gnadenlos war, dass sie nur einen Wunsch hegte:
Jason zu folgen.
»Sie hat seither rein gar nichts zu sich genom-
men«, sagte ihr Mann Rick allen Besuchern. »Ich
habe versucht, mit ihr zu sprechen, aber sie hört mich, glaube ich, nicht einmal. Sie sitzt nur da
und starrt ins Leere.« Seine Augen waren rot vor
Müdigkeit. »Wir müssen… Entscheidungen tref-
fen, wegen dem Begräbnis und allem. Aber sie
will nichts davon hören. Es scheint mir fast, als glaube sie, sie könne es ungeschehen machen,
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wenn sie nicht darüber redet. Ich weiß nicht, was ich tun soll…« Seine Stimme verlor sich. »Ich
kann mich doch um das Begräbnis kümmern«,
bot sein Bruder ihm an. »Dann kannst du bei Ja-
net sein.«
»Wenn ich nur wüsste, was sie will«, murmelte
Rick. »Ruh dich jetzt aus«, schlug seine Schwä-
gerin vor. »Überlass alles andere uns.«
Rick betrat das Kinderzimmer, beugte sich über
den Schaukelstuhl und nahm seine Frau in die
Arme. Er merkte kaum, dass der Priester ihm ge-
folgt war und nun still hinter ihm stand.
Rick wusste genau, wie Janet zu Mute war. Sie
hatten dreizehn Jahre lang versucht, ein Kind zu
bekommen, und Jason war der einzige Überle-
bende dieser Versuche gewesen. »Mein Bruder
kümmert sich um das Begräbnis«, murmelte er in
ihr Haar. »Es wird so, wie du es willst, schlicht, keine Musik, keine Medien, nur Familie und
Freunde, die sich von Jason verabschieden.«
Er spürte, wie ihr Körper zuckte. »Er kann nicht
alleine bleiben«, sagte sie mit merkwürdig hoher
Stimme. »Du weißt, dass er Angst hat, wenn er
alleine ist.«
»Er wird nicht alleine sein«, sagte Rick sanft, obwohl er in diesem Augenblick nicht an ein höhe-
res Wesen glauben konnte, das sich seines Soh-
nes annahm. »Nein, er wird nicht alleine sein«,
sagte Janet in diesem beängstigenden Tonfall,
»weil ich ihn begleiten werde. Dann werden wir
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für immer zusammen sein.«
»Bitte, Liebes, sag nicht solche Sachen«, erwider-te ihr Mann so ruhig wie möglich und fasste sie
unwillkürlich fester an den Schultern, als könne
sie ihm jeden Augenblick entgleiten. »Du weißt,
dass du Jason nirgendwohin folgen kannst.«
»Doch, ich kann das«, sagte sie, und ihre Stimme
jagte ihm einen Schauer über den Rücken. »Du
kannst deinem Bruder sagen, dass sich niemand
verabschieden muss.« In diesem Augenblick mel-
dete sich der Priester zu Wort. »Liebes Kind, so
verzweifeln Sie nicht«, sagte er. »Jason ist in lie-benden Händen. Er ist jetzt bei Gott.« Janet Hol-
man blickte zu dem Mann auf, als sähe sie ihn
zum ersten Mal im Leben. »Was für einem
Gott?«, fragte sie, sichtlich
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