Mein Wille geschehe
erstaunt.
Jesse Montero war kein eifriger Kirchgänger. Er
war immer der Meinung gewesen, dass seine
Frau so viel betete, dass es für sie beide reichte.
Doch an dem Sonntag nach dem Anschlag stand
er auf, schaffte es irgendwie, seinen einzigen guten Anzug anzuziehen, und wartete als Erster am
Auto. »Was machst du denn da, Jesse?«, fragte
seine Frau. »Der Arzt hat doch gesagt, du sollst
im Bett bleiben.« Ihr Mann gestikulierte ungedul-
dig mit seinen bandagierten Armen. »Ich werde
Gott dafür danken, dass er mir das Leben geret-
tet hat«, sagte er zwischen den Verbänden hin-
durch, die den größten Teil seines Gesichts be-
deckten. »Beeil dich, hol die Kinder. Ich will nicht 56
zu spät kommen.« Die Kirche war voll, was den
Priester nicht wunderte. Nach Katastrophen fühl-
ten sich die Menschen dem Allmächtigen wieder
näher.
Marge Montero warf einen Blick auf ihren Mann,
der in der Bank kniete und einen Rosenkranz zwi-
schen seinen verbundenen Händen hielt. Sie
schlief seit sechzehn Jahren an der Seite dieses
Mannes, und sie hatten gute Zeiten, schlechte
Zeiten und schlimme Zeiten gemeinsam durch-
lebt: Arbeitslosigkeit, Krankheit, Hunger, Ob-
dachlosigkeit. Doch in all diesen Jahren erlebte
sie es zum ersten Mal, dass er Angst hatte.
Helen Gamble konnte nicht aufhören zu weinen.
Die Zwillinge waren wegen kleinerer Knochenbrü-
che und ein paar Schnittwunden im Kinderkran-
kenhaus behandelt worden und befanden sich
nun wohl behütet in ihrem Einfamilienhaus in
West Seattle. Helens Mann Walter hatte eine Ge-
schäftsreise in Australien abgebrochen und war
sofort zurückgeflogen, als man ihn benachrichtigt hatte. Doch auch als ihr Mann an ihrer Seite weil-te, konnte Helen ihren Tränenfluss nicht stoppen.
»Das sind die Nerven«, sagte der Arzt zu Walter.
»Machen Sie sich keine Sorgen, es geht vorbei.«
»Es ist wegen dieser armen Kleinen, die nicht
mehr nach Hause kommen«, sagte Helen zu ei-
nem Reporter vom People Magazine, der es geschafft hatte, einen Fuß in ihre Tür zu bekom-
men. »Und wegen Brenda Kiley, der ich so un-
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endlich viel schuldig bin, das ich nie werde ver-
gelten können. Und wegen all der anderen Men-
schen, die umgekommen sind. Ich kann es ein-
fach nicht begreifen.«
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass die
Zwillinge im Kinderkrankenhaus gut betreut wa-
ren, ging Helen Gamble sofort zu Raymond Kiley,
nahm ihn in die Arme und sagte ihm, in Christo-
phers und Jennifers Leben werde es keinen einzi-
gen Tag mehr geben, an dem der Name seiner
Frau nicht erwähnt würde.
»Sie werden nie mehr vergessen«, sagte sie,
»dass zwei Frauen ihnen das Leben geschenkt
haben.«
»Wir haben uns immer Kinder gewünscht«, sagte
Raymond. »Aber wir haben keine bekommen.«
»Jetzt haben Sie zwei«, versicherte ihm Helen.
Brenda Kiley wurde am Montag zur letzten Ruhe
gebettet. Ungeachtet ihrer eigenen Verletzungen,
die sich als weit schwerwiegender erweisen hat-
ten als die von Christopher und Jennifer, zog He-
len den Zwillingen ihre Sonntagskleider an und
ging mit ihnen zu der Trauerfeier, an der sonst
nur Verwandte und Freunde teilnahmen. Dann
fuhr sie wieder mit ihnen nach Hause, legte die
beiden ins Bett, damit sie ihren Mittagsschlaf machen konnten, und weinte weiter.
Die dreijährige Chelsea Callahan, die den An-
schlag überlebt hatte, bei dem ihre Mutter ums
Leben gekommen war, wurde vorläufig in einer
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Pflegefamilie untergebracht, während man sich
darum bemühte, Verwandte ausfindig zu machen,
die sie aufnehmen konnten.
Die Pflegefamilie berichtete, dass die Kleine au-
ßer Stande war, etwas anderes als »Mama« zu
sagen, und dass sie sich jeden Abend in den
Schlaf weinte.
Nach einer achtstündigen Operation kamen die
Arzte zu dem Schluss, dass Betsy Toth künftig
gelähmt sein würde. Man hatte ihre Wirbelsäule
wieder herstellen können, doch die Nervenbah-
nen waren zu sehr beschädigt. Die zwanzigjähri-
ge Schwesternhelferin würde den Rest ihres Le-
bens im Rollstuhl verbringen müssen und ihre
Arme und Hände nur sehr eingeschränkt benut-
zen können.
Andy Umanski saß an ihrem Bett, hielt ihre Hand
und sah ihr zu, wie sie schlief. In den letzten fünf Tagen hatte sie kaum etwas anderes getan, und
das war ein Segen, fand er. Es war besser, wenn
sie etwas zu Kräften kam, bevor sie die Nachricht hörte. Doch sie sah alles andere als kräftig aus, wie sie da in dieser bedrohlich
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