Mein Wille geschehe
gegen mich oder gegen
das Hill House hätte. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass die Jensens etwas damit zu tun
haben, aber ich musste der Polizei von der Sache
berichten.«
»Natürlich«, sagte sie. »Machen Sie sich keine
Sorgen. Wenn die Jensens nichts damit zu tun
haben, geschieht ihnen ja nichts.«
»Das sind anständige Leute«, erwiderte er. »Ich
will nicht, dass ihnen wegen meiner Aussage
Nachteile entstehen.«
»Ich rede mit ihrem Anwalt«, versprach Dana.
»Er ist auf Zack. Er wird den Jensens erklären,
dass Ihnen keine andere Wahl blieb. Das geht
schon in Ordnung.«
Marilyn Korba saß in sich zusammengesunken in
dem kleinen Wartezimmer vor der Intensivstation
im Harborview Medical Center, das mit einem ab-
gewetzten Sofa, drei Stühlen mit rissigen Plastik-bezügen und einem Fernseher ausgestattet war,
der nur einen Sender empfing. Hier hielt sie sich seit zweiundsiebzig Stunden auf, seit man ihr am
Telefon gesagt hatte, dass ihr Mann bei der Exp-
losion des Hill House lebensgefährlich verletzt
worden war.
Verwandte, Freunde, Ärzte und Schwestern wa-
ren gekommen und gegangen und hatten etwas
zu essen, Decken und Kissen, ein paar aufmun-
ternde Worte und neue Informationen über Jeff-
reys Zustand gebracht, aber Marilyn nahm alles
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nur am Rande wahr. Mit ihrer Schwester, die von
Anfang an bei ihr gewesen war, sprach sie, und
einmal am Tag rief sie ihre Mutter an, die sich um die Kinder kümmerte. Doch meist dachte sie daran, dass sie Jeffrey zum letzten Mal gesehen hat-
te, als sie sich wegen einer dämlichen Waschma-
schine zankten. Und nun war es durchaus mög-
lich, dass sie seine Stimme nie wieder hören
würde.
Ab und zu ließ man sie für ein paar Minuten zu
ihm. Er lag in einem kleinen sterilen abgedunkel-
ten Raum, und angesichts seines Zustandes
konnte man es als Segen bezeichnen, dass er
nicht bei Bewusstsein war. Sein einst kraftvoller Körper war über verschiedene Kabel mit Maschi-nen verbunden, die blinkten und piepten. Über
Schläuche wurden ihm Blut, Glucose und Salzlö-
sung zugeführt. In ihrem ganzen Leben hatte Ma-
rilyn noch nie etwas so Entsetzliches gesehen.
»Ich will nicht, dass er Schmerzen hat, wenn er
aufwacht«, sagte sie verzweifelt zu den Ärzten.
»Sie können ihm doch was dagegen geben, o-
der?«
»Natürlich«, antworteten die Ärzte und nickten
ernst. Sie wollten sie nicht darauf hinweisen, dass er wahrscheinlich nicht mehr aufwachen würde.
Marilyn und Jeffrey Korba waren beide in Seattle
aufgewachsen, hatten sich an der Universität von
Washington kennen gelernt und nach ihrem Ab-
schluss geheiratet. Als Jeff seine Ausbildung ver-51
vollständigte, wohnten sie bei Marilyns Eltern. In dem Jahr, bevor er seinen Doktor machte, kauften sie sich ein kleines Haus in Issaquah und be-
kamen kurz hintereinander drei Kinder, zwei Jun-
gen und ein Mädchen. In all den Jahren waren sie
nur in den Nächten nicht zusammen gewesen, in
denen Jeff Dienst hatte, und einmal einen ganzen
Tag. Wenn sie sich gestritten hatten, klärten sie das immer noch am selben Tag.
»Ich wünschte, sie würden mich zu ihm lassen«,
sagte Marilyn zu ihrer Schwester. »Er soll nicht
alleine sein.«
»Er ist nicht alleine«, sagte ihre Schwester sanft.
»Gott der Herr ist bei ihm.«
Nachdem man die Metallsplitter operativ entfernt
hatte, die Ruth Zelkin das Augenlicht geraubt
hatten, wurde die einstige Leiterin der Kinderta-
gesstätte im Hill House in ein Einzelzimmer im
dritten Stock des Virginia Mason Hospital ge-
bracht. Obwohl sich die Zelkins eine solche Aus-
gabe kaum leisten konnten, hatte ihr Mann Harry
darauf bestanden, da er wusste, dass ihre Familie sich um sich scharen wollte. Er hatte Recht. Vier ihrer fünf Kinder lebten in Seattle und Umgebung
sowie Ruths zwei Schwestern, ihr Bruder, Harrys
Bruder und weitere Familienangehörige. Zu jeder
Tageszeit hielten sich mehrere Menschen in Ruths
Zimmer auf. »Die Kinder«, stöhnte Ruth, kaum
dass sie aus der Narkose erwachte. »Was ist mit
den Kindern? Und den Mitarbeitern?«
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»Denkjetzt nicht daran«, sagte Harry sanft. »Das
hat Zeit. Du musst jetzt erst einmal gesund wer-
den.« Sie wandte den Kopf in seine Richtung und
flüsterte angstvoll: »Wie viele?«
Harry war froh, dass sie sein angespanntes Ge-
sicht nicht sehen konnte. Es ist zu früh, dachte
er, sie ist noch nicht kräftig genug. Ihre älteste Tochter nahm die Hand der Mutter.
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