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Meine Freundin Jennie

Meine Freundin Jennie

Titel: Meine Freundin Jennie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Gallico
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und an einigen Stellen bereits in fetzen riß, die nun in der Luft auf und ab schwebten, bis die goldgelben Strahlen der aufgehenden Sonne das dünne Gespinst vollends durchlöcherten. Hoch über ihm kam jetzt der blaue Himmel zum Vorschein, auch die letzten Nebelschleier lösten sich auf, und plötzlich konnte Peter alles sehen. Jennie hatte recht: Sie befanden sich tatsächlich in den Türmen der Kettenbrücke in Clark Street.
    Und zwar hockten sie ganz oben, beinahe an der Spitze, das heißt, Jennie lag ein paar Meter tiefer als er auf einem der schrägen eisernen Brückenträger des benachbarten Zwillingsturms. Unter ihnen war, wie auf einer Landkarte, ganz Glasgow ausgebreitet; das graue Band des Clyde schlängelte sich quer durch die Stadt, der Hauptbahnhof und der St. Enoch-Bahnhof hoben sich wie zwei häßliche dunkle Flecken von dem helleren Häusermeer ab, und die vielen Eisenbahnschienen krochen wie Spaghetti aus einem angerissenen Paket aus den beiden Bahnhofshallen hervor.
    Hier, dachte Peter, bot sich ihm die beste Gelegenheit, die große Stadt einmal aus der Vogelschau zu sehen oder, moderner ausgedrückt, aus der Vogelperspektive eines Piloten. Nach Osten hin leuchtete der schöne Glasgower Golfplatz auf, wie ein riesiger Smaragd, und im Westen erblickte Peter den sich immer breiter ausdehnenden Fluß mit den Werften und Schiffen, unter denen er sogar die plumpen, aber geliebten Umrisse der Gräfin von Greenock zu erkennen vermochte; und als er genauer hinschaute, sah er, daß aus ihrem schmalen Schornstein wieder schwarze Rauchwolken aufstiegen, was nur heißen konnte, daß sie im Begriff war, wieder auszulaufen. Immer wieder ließ Peter seine Blicke umherschweifen, als betrachte er eine Bildseite in einem Geographiebuch. Im Norden tauchten jetzt aus dem Nebel blaue Berge und Seen auf, und er war sicher, auch den alle anderen Gipfel überragenden berühmten Ben Lomond sehen zu können.
    Zu seiner großen Überraschung stellte er fest, daß ihn die Höhe seines heftigen Sitzes weder schwindlig machte noch ängstigte, und solange er sich nicht bewegte, konnte er daher die Aussicht unbehindert genießen. Erst als er versuchte, so weit hinunterzuklettern, daß er sich mit Jennie auf gleicher Höhe befand, sollte er entdecken, daß er weder aufwärts noch abwärts zu steigen vermochte.
    «Jennie», rief er seiner Freundin zu, «ich sitze hier ganz sicher. Aber wie können wir nur wieder von hier herunterkommen? Die Hunde sind bestimmt nicht mehr da, und wenn du den Abstieg wagen willst, werde ich versuchen, dir zu folgen.» Er dachte wohl, wenn er sehen würde, wie Jennie das anstellte, würde er den Mut dazu auch aufbringen und es ihr nachmachen können, wie er ihr schon so vieles einfach nachgemacht hatte.
    Es dauerte ein Weilchen, bis sie ihm antwortete, und unterdessen konnte er sehen, daß sie mit einem merkwürdig verzweifelten Ausdruck in den Augen zu ihm aufblickte. Schließlich rief sie leise: «Peter, es tut mir schrecklich leid, aber ich kann nicht. So etwas kommt bei einer Katze hin und wieder vor. Wir verirren uns und klettern irgendwo hoch hinauf und können dann nicht wieder herunter, auch nicht von Bäumen oder Telegraphenstangen, an denen wir uns mit unseren Krallen doch wenigtens festhalten können. Aber an diesem gräßlich glatten, glitschigen Stahl — huh! Nein, das bringe ich einfach nicht fertig. Ich bin wie gelähmt vor Angst. Also kümmere dich nicht um mich, Peter, und schau lieber zu, wie du wenigstens herunterkommst.»
    «Selbst wenn ich’s könnte», erwiderte Peter, «würde ich nicht ohne dich heruntersteigen, Jennie, aber ich kann es ja gar nicht. Mir geht es genau so wie dir. Ich käme auch nicht einen Zollbreit von der Stelle. Was soll jetzt nur aus uns werden?»
    Jennies Blick umdüsterte sich, und sie wandte die Augen ab. «Es ist aus mit uns, Peter. Entweder müssen wir hier oben Hungers sterben, oder wir werden abstürzen und uns sämtliche Knochen zerbrechen. Oh, ich wünschte, ich wäre schon tot, so elend fühle ich mich! Es ist mir gleich, was aus mir wird, aber wenn ich daran denke, was ich dir angetan habe, mein armer Peter...»
    Peter wiederum stellte fest, daß seine unmittelbare Sorge nicht so sehr der bedrohlichen Situation galt, in der sie sich befanden, als vielmehr Jennies Gemütsverfassung; denn die Jennie, die so zu ihm sprach, war nicht mehr seine alte tapfere und beherrschte Freundin, die für jedes Dilemma eine Lösung und auf jede Frage die

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