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Meine Freundin Jennie

Meine Freundin Jennie

Titel: Meine Freundin Jennie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Gallico
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richtige Antwort wußte. Offensichtlich hatte sie irgendeinen tiefen Kummer, der ihr den Mut und die Fähigkeit raubte, in einer Notlage wie dieser zu denken und zu handeln. Er konnte sich zwar nicht vorstellen, was sie so bedrückte, aber da sie sich nun einmal so schwach und hilflos zeigte, war es demnach an ihm, die schwere Last der Verantwortung zu tragen und wenigstens zu versuchen, ihr eine Stütze zu sein, wie sie es ihm so oft gewesen wai. Und so sagte er:
    «Ach, komm! Schließlich leben wir ja noch und sind beieinander, und darauf allein kommt es an.»
    Spontan lohnte Jennie ihm diese Worte mit einem etwas zaghaften Lächeln und einem kurzen leisen Schnurren. Dann sagte sie matt: «DaS war sehr lieb von dir, Peter.»
    «Und außerdem», fuhr Peter energisch fort, «werden sie uns früher oder später bestimmt hier oben entdecken und uns herunterholen.»
    «Ach, Peter», rief Jennie verzweifelt aus, «du weißt ja nicht, wie die Menschen sind. Ich...»
    «Doch weiß ich das», beharrte Peter. «Jedenfalls habe ich in den Zeitungen schon oft Bilder gesehen, wo eine Menge Leute bei einer Leiter herumstanden, auf der ein Feuerwehrmann zu einem Baumwipfel hinaufstieg, um eine Katze herunterzuholen...»
    «Auf einen Baum vielleicht», unterbrach ihn Jennie, «aber die Mühe, bis hier zu uns heraufzusteigen, macht sich bestimmt niemand...»
    «Nun», sagte Peter, obwohl er sich durchaus nicht sicher war, daß man ihnen, falls sie hier oben gesehen werden sollten, zu Hilfe kommen würde, «ich meine, wir sollten jedenfalls versuchen, uns bemerkbar zu machen», woraufhin er tief Luft holte und einen langgezogenen und durchdringenden Klageschrei ausstieß, in den dann auch Jennie einstimmte, wenn sie auch nicht glaubte, daß es etwas nützen würde.
    Und tatsächlich hatte es den Anschein, als sollte sie mit ihrem Pessimismus recht behalten. Tief unter ihnen wurde die Stadt lebendig. Der Verkehr begann durch die Straßen zu fluten, aus denen nun, wie das ferne Rauschen einer Brandung, ein dumpfes Brausen zu den beiden auf ihren gefährlichen luftigen Sitzen empordrang und die Schreie, mit denen sie auf sich aufmerksam zu machen suchten, zu übertönen drohte. Auf der Kettenbrücke schritten die Fußgänger in einem stetigen Strom zwischen der Portland und der St. Enoch Street hin und her. Aber den ganzen langen Tag blickte auch nicht ein einziger zum Himmel und zu den Turmspitzen auf.
    Und während der ganzen Nacht sprach Peter Jennie Mut und Trost zu und bemühte sich redlich, sie immer wieder aufzumuntern. Doch am nächsten Morgen fühlten sie sich beide merklich schwächer. Ihre Stimmen waren ganz kraftlos geworden von dem vielen Schreien, und Peter spürte, daß er sich nicht mehr so fest an die Verstrebungen des Tragbalkens zu klammern vermochte. Trotzdem wollte er die Hoffnung nicht aufgeben, und deshalb sagte er zu Jennie: «Hör mal, wir müssen wenigstens einen Versuch machen, von hier runterzukommen. Ich probier’s zuerst, und du paßt genau auf, wie ich’s anstelle, und dann folgst du mir.»
    Jennie aber stöhnte: «Nein, nein! Das kann ich nicht. Das ist noch schlimmer, als wenn die Bluthunde über einen herfallen. Ich bringe es einfach nicht fertig, aus einer solchen Höhe hinabzuklettern. Schon der bloße Gedanke daran macht mich schwindlig.»
    Da wußte Peter, daß ihm nichts anderes übrig blieb, als bis zum bitteren Ende auszuharren. Fest entschlossen, sich auszuruhen und seine Kräfte solange wie nur irgend möglich zu bewahren, machte er die Augen zu.
    Er mußte wohl sehr tief geschlafen haben, denn erst viele Stunden später wurde er plötzlich von einer wahren Symphonie des Großstadtlärms aufgeweckt — lautem Stimmengewirr, Sirenengeheul, Motorengeräusch und Glockengeklingel. Am Südufer des Flusses, am Portland-Platz vor dem Eingang zur Brücke, hatte sich eine Menschenmenge angesammelt, und die Leute wimmelten wie Ameisen zwischen allen möglichen Lastautos herum, die nur so blitzten vor lauter Messing, Apparaturen und Maschinen: Feuerwehrwagen, die quer über den Platz herangerast kamen, Polizeiautos und Spezialwagen aus den Werkstätten des Elektrizitätswerks, des Telephonamts und der Baubehörde.
    «Jennie, Jennie!» rief Peter. «Guck mal hinunter, auf den Platz hinab und schau dir an, was da vor sich geht.»
    Sie tat es und rief ihm dann leise zu: «Was ist denn da los? Sieht ganz so aus, als wäre auf der Brücke ein Unglück passiert. Aber das ändert doch nichts an unserer

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