Meine Schwiegermutter trinkt - Roman
Arschloch«, legte der Ingenieur theatralisch nach.
Die Alte wandte sich mir zu, um die dramaturgische Intensität des Moments mit mir zu teilen.
Für den Bruchteil einer Sekunde schien Matrix die Luft anzuhalten.
Endlich ließ Ingenieur Romolo Sesti Orfeo ihn los, und automatisch schnellte Matrix’ Kopf so heftig zurück, als würde er sich durch eine Art Rückprall wieder mit dem Rest seines erschöpften Körpers verbinden. Der arme Kerl hustete verkrampft, rutschte eine Weile ziellos und im Zickzack auf den Knien umher und versuchte dann, sich trotz seiner gefesselten Arme über den Rücken hochzuziehen.
Der Ingenieur klopfte sich behelfsmäßig die Kleider aus (er legte offensichtlich in jeder Lebenslage Wert auf die Form), bevor er sich seinem Publikum, also der alten Dame und mir, zuwandte. (Wer von uns beiden entgeisterter aus der Wäsche schaute, ist, glaube ich, schwer zu sagen.) Dann widmete er sich wieder der Fernbedienung, richtete sie erneut auf die beiden Monitore gegenüber und drückte (zumindest schien es mir so) eine bestimmte Tastenfolge. Einen Augenblick später erschien auf beiden Bildschirmen das Bild des knienden und an der Rückseite seines Körpers an den Handlauf des Kühlregals geketteten Matrix. Wie in einem Film von Al Jazeera.
Der Ingenieur Romolo Sesti Orfeo warf mir wieder einen seiner bedeutungsschwangeren Blicke zu.
Ich muss mit einer besonders fassungslosen Miene darauf reagiert haben, weil ich durch ein winziges, schräges Zucken der Oma-Augenbrauen den klaren Eindruck vermittelt bekam, dass sie gerade im Begriff war, ihre Meinung über mich zu revidieren. (Na ja, wenn sie ein klein bisschen nachgedacht hätte, wäre sie auch schon vorher darauf gekommen, dass ich keinesfalls mit Ingenieur Romolo Sesti Orfeo einverstanden sein konnte – immerhin hätte ich ihm sonst geholfen, statt nur dumm herumzustehen und ihm zuzuschauen, wie er alles allein erledigte. Okay, okay, vielleicht war dieser Gedankengang aber wirklich zu raffiniert für die Alte.)
Instinktiv drehte ich mich zu dem Monitor hinter beziehungsweise über mir – und tatsächlich: Auch sie zeigten die Geiselversion von Matrix auf dem Bildschirm.
Ab diesem Punkt lichtete sich meine Konfusion allmählich.
Matrix spuckte noch eine Weile lang aus. Als er wieder zu einem mehr oder minder regelmäßigen Atmen zurückgefunden hatte und den Blick hob, blieb der verblüfft an den beiden Monitoren hängen. Irgendwie schien er sich bekannt vorzukommen – und dann doch auch wieder nicht: Zunächst schaute er skeptisch an sich selber herab (›Sind das tatsächlich meine Kleider?‹), reckte dann seinen Hals erneut zu den Bildschirmen hoch und ruckelte mit den Schultern dabei wie ein Boxer, der seinen Gegner im Kampf abcheckt.
Der Bewegungstest zerstreute auch den letzten Zweifel, und Matrix schien zu begreifen, dass er tatsächlich in der Falle saß. Er fletschte die Zähne und begann zu hyperventilieren.
Genau in dem Moment hörte ich von fern unbedarft die Stimme einer Kassiererin fragen: ›Was ist denn dort drüben los, was passiert da?‹; und eine andere, ebenfalls weibliche, vielleicht etwas jüngere Stimme: ›Franco, Franco, hast du das gesehen?‹
Dann noch eine.
Eine andere.
Und noch eine:
›Das gibt’s doch nicht. Schau mal, dort auch, auf dem andern!‹
›O Gott, wo ist denn das, ist das hier drin?‹
›Warum müssen wir denn schon gehen, Mama?‹
Das Volk im Supermarkt hatte die Blicke zu den Monitoren der Videoüberwachung erhoben.
Endlich fühlte ich mich weniger allein.
Alles hängt von der Kindheit ab
(inklusive Schnellkurs in nicht allzu kreativem Schreiben mit Beispielen aus der Praxis)
»Hätte mir das deine Mutter nicht selber sagen können?«, hatte ich Alagia im gekränktesten Ton, den ich zuwege brachte, geantwortet, als sie mit der Nachricht zu mir kam.
Darauf sie: »Wusste ich’s doch. Du nervst echt, Vince’. Wann hörst du endlich mal auf, andauernd die beleidigte Leberwurst zu spielen, statt mal auf die Botschaft zu hören, die man dir sendet? Du reitest immer nur darauf herum, dass du dich – von wem auch immer – übergangen fühlst, anstatt genau zuzuhören, was man dir sagt. Gerade eben hab ich dich informiert, dass Großmutter Krebs hat. Hallo? Willst du dich vielleicht mal dazu äußern?«
Darauf wusste ich erst mal nichts zu sagen. Sie hat ja recht – manchmal fühle ich mich wirklich auf den Schlips getreten, und zwar so sehr, dass ich einfach nicht anders kann,
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