Meine Schwiegermutter trinkt - Roman
ich als weiteres Lebensmotto noch ergänzen wollen.)
Ich will hier jetzt aber nicht als Zyniker gelten. Als Nives mir die Geschichte von ihrem kleinen Kindheitstrauma erzählte, das ihren Lebensweg prägte, war ich sogar ein wenig gerührt (ich griff nach ihrer Hand, und danach haben wir uns zart geküsst … Okay, damals hatte ich sie noch nicht gebumst, aber ich schwöre, dass mich ein aufrichtiger Impuls, sie zu trösten, leitete). Ich verstehe, dass ein von grundloser Traurigkeit heimgesuchtes neunjähriges Mädchen sich angesichts einer solchen Demonstration von mütterlichem Zynismus übel fühlt. Weil Traurigkeit natürlich existiert. Und weil sie ein bisschen ist wie Niesen-Müssen: Sie kommt, wann sie will. Nur dass es nicht reicht, einen Pulli überzuziehen, damit sie vorbeigeht.
Jedes Mädchen, das sich eines Nachmittags plötzlich grundlos traurig fühlt (übrigens wäre es nicht ganz unwichtig zu wissen, ob dieser legendäre Tag im Fall von Nives ein Sonntag war, denke ich gerade), müsste eigentlich das verfassungsmäßige Recht auf wenigstens einen Elternteil zugestanden bekommen, der ihm erklärt, dass man sich manchmal auch ohne Grund traurig fühlt und man deshalb nicht zu verzweifeln braucht, weil es irgendwann wieder vorbeigeht.
Aber um diese Art von Betreuung leisten zu können, muss man als Elternteil bereit sein, in der Klage über das grundlose Unglücklichsein nicht nur den Hilferuf seines Kindes zu vernehmen, sondern seine seelische Not auch anzuerkennen – wenigstens ansatzweise. Leider gibt es aber viel zu viele Menschen auf der Welt (darunter auch Mütter), die sich schlichtweg weigern anzuerkennen, dass man auch ohne Anlass unglücklich sein kann (vielleicht weil sie das Traurigsein mit Grund so gut kennen).
Wenn sie auf die Nöte ihrer Kinder nicht eingehen, geschieht das übrigens in den seltensten Fällen aus Egoismus oder Wurschtigkeit, sondern einfach, weil sie schon bei der Existenzfrage der Ursache – Sein oder Nichtsein von seelischen Nöten – unbelehrbar sind, so sieht’s nämlich aus. Sie benehmen sich ihrem unglücklichen Kind gegenüber wie ein Arzt im Umgang mit einem Hypochonder: sie versuchen, die Symptomatik mit möglichst geringem Einsatz zu entkräften.
Wie ich zu der Thematik stehe, wollt ihr wissen? Na ja, ich muss zugeben, dass ich Menschen wie meine Schwiegermutter im Grunde beneide. Menschen, die nach den Prinzipien ›Offensichtlichkeit‹ und ›Dringlichkeit‹ verfahren. Die etwas voranbringen. Die der Zumutung trauriger Tage mit einem Achselzucken begegnen. Die durchaus an die Existenz einer Seele glauben, aber felsenfest davon überzeugt sind, dass man deshalb noch lange nicht in den ganzen Psychokram einsteigen muss. Ich beneide Menschen, die ihre eigenen Gedanken nicht so bitterernst nehmen und sie deshalb nicht ständig neu überdenken, überarbeiten, umformulieren und wieder zurücknehmen. (Weil ich – im Gegensatz zu solchen Leuten wie Ass – meinen Gedanken nämlich auf Gedeih und Verderb ausgeliefert bin. Wenn ich sie wenigstens nur einmal denken würde und Schluss. Aber meine Gedanken kommen und gehen mir mit einer Freizügigkeit und Beliebigkeit durch den Kopf und halten mich mit einer solchen Beharrlichkeit davon ab, wirklich überzeugte Entscheidungen zu fällen, dass sie mich komplett auslaugen. Sie sind Parasiten – sagen wir’s, wie’s ist.)
Ich wünschte, meine Gedanken würden mich endlich mal nicht mehr als Herberge oder Klagemauer missbrauchen, wenn sie mal wieder abgeschweift sind und überall nur Mist gebaut haben. Ach, wenn sie sich nur einmal mit ihrem Inhaber zufriedengeben und mir die Treue halten würden …
Mein größter und häufigster Fehler (vor allem in zwischenmenschlichen Beziehungen)? Definitiv mein Hang zum Grübeln! Ehrlich, ich bin immerzu am Grübeln: Wenn ich durch die Straßen gehe. Beim Arbeiten. Wenn ich mich vergnüge. Wenn ich mich in Selbstmitleid suhle. Beim Liebe machen (vor allem wenn ich keine mache).
Wenn man’s genau bedenkt, ist Grübeln die typische Aktivität von Psychopathen, weil man sich ja immer mit bereits Vorgefallenem herumquält; mit Dingen, die nicht mehr zu ändern sind. (Weshalb klar ist, dass es sich beim Grübeln um eine krankhafte Lust handelt, eine intellektuelle Nekrophilie, kurz: um eine masochistische Praxis.)
So weit, so gut, aber ich bekenne, dass ich noch wesentlich Schlimmeres tue: Manchmal lasse ich mich so sehr vom Grübeln vereinnahmen, dass ich sogar schreibe .
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