Meine zwei Halbzeiten
schauten sich um. Hin und wieder machten
sie Bemerkungen über die eine oder andere Frau. Nach einer Weile platzierte sich eine attraktive, dunkelhaarige Dame auf den
freien Barhocker neben mir. Es dauerte nicht lange, und sie legte mir ihre Hand auf das rechte Bein, weit oberhalb des Knies.
Das geht hier ja schnell zur Sache, dachte ich, fast so schnell wie drüben. Ich kam nicht einen Moment auf die Idee, dass
es sich bei |169| ihr vielleicht um eine Animierdame oder eine Prostituierte handeln könnte. Sie schmiegte sich an mich, trank aus meinem Glas.
Da ich nach den vergangenen Ereignissen etwas anlehnungsbedürftig war und der Alkohol sein Übriges tat, kam uns nichts Besseres
in den Sinn, als uns zu küssen. Dabei wanderte ihre Hand immer höher hinauf. In diesem Augenblick ging Norbert dazwischen:
«Mensch, jetzt ist hier Schluss.» Und zu der Frau gewandt: «Du gehst jetzt mal, den lässt du in Ruhe.»
«Was ist denn los? Das ist mein Mädel!», brauste ich auf.
«Komm besser zu uns», sagte Norbert und zog mich von der reizvollen Frau weg. «Bist du eigentlich bescheuert? Hast du denn
gar nichts verstanden?»
«Was denn?», fragte ich.
«Na, das war doch ein Mann!»
«Wie, ein Mann?»
Das erste Mal in meinem Leben war ich einem Transvestiten begegnet. Sofort rannte ich auf die Toilette, fast hätte ich mich
erbrochen. Stattdessen gurgelte ich mehrmals mit eiskaltem Wasser. Ich hatte einen Mann geküsst! Ein Mann ist mir in den Schritt
gegangen! Augenblicklich war ich nüchtern.
Später wurde dieser Abend Legende. Jürgen und Norbert erzählten die Geschichte jedem, der sie hören wollte oder nicht: «Wir
mussten unseren Trainer von einem Mann trennen, die wollten gerade heiraten.»
Anschließend fuhren wir wieder in Norberts Wohnung. Er teilte sie mit seiner Freundin Patricia Bieneck, die aber gerade nicht
da war. Sie besuchte Norberts Eltern im Osten. Bei uns war noch eine Bekannte der beiden Fußballer, wir hatten sie zufällig
auf der Straße getroffen und eingeladen mitzukommen.
Durch meine «Männerbekanntschaft» war das Eis zwischen Norbert, Jürgen und mir endgültig gebrochen, ohne Vorsicht erzählten
wir, was uns in den Sinn kam. Zu dieser nächtlichen Uhrzeit war es sicher nicht immer sehr geistreich.
|170| Irgendwann fragte ich Norbert, ob er denn keine ordentliche Musik habe.
«Was hättest du denn gern?»
«Dire Straits», sagte ich. «‹Sultans Of Swings›, wenn ihr die Platte habt.»
Norbert spielte sie zehnmal hintereinander, drehte die Lautstärke auf und öffnete auch noch das Fenster. Von einem gegenüberliegenden
Haus schrie jemand, es sei fünf Uhr morgens, ob wir denn verrückt seien. An der Haustür klingelte und klopfte es, zwischendurch
kam auch die Polizei – aber Norbert hatte die Ruhe weg, der war in dieser Hinsicht kalt wie eine Hundeschnauze.
Es war schon längst hell, als er mir ein kleines Zimmer zeigte, in dem sich auf dem Boden eine Matratze befand. «Hier kannst
du die nächste Zeit bleiben», sagte er. Zufrieden streckte ich mich der Länge nach aus. Ich hatte meine erste Party im Westen
erlebt – und die hatte es in sich gehabt.
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«Ich komme nicht aus dem Osten, ich bin Deutscher!»
|172| In der Woche danach versuchte ich, mein Leben zu regeln. Der DFB riet mir ebenfalls dazu, nachdem ich dort ein weiteres Mal
angerufen und mitgeteilt hatte, dass ich im Aufnahmelager in Gießen gewesen war und jetzt bei Norbert Nachtweih wohnte. Als
ich genauer in Erfahrung bringen wollte, wie ich das am besten bewerkstelligen könnte, bekam ich lediglich den Hinweis, dass
ich zuerst alle notwendigen Formalitäten erledigen solle.
An einem trainingsfreien Tag fuhren Norbert und Jürgen mit mir zu adidas. Es war üblich, dass dieses Unternehmen Sportler
unentgeltlich einkleidete. Natürlich gab es dort keine Alltagsoutfits, aber immerhin tolle Sportsachen. Unterwäsche und Strümpfe
kauften mir meine beiden ehemaligen Spieler, zudem erhielt ich von ihnen ein paar Hemden und Schuhe. Das Nötigste war fürs
Erste zusammengetragen.
Als Nächstes suchte ich das Einwohnermeldeamt auf und beantragte einen Personalausweis sowie einen Reisepass, wobei ich meine
Ersatzdokumente, die mir die Deutsche Botschaft in Jugoslawien und das Aufnahmelager in Gießen ausgestellt hatten, abgeben
musste. Gerd Penzel brauchte keinen Doppelgänger mehr zu fürchten – und ich hatte bald bundesrepublikanische Ausweise, ein
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