Meister und Margarita
beinahe unverzeihlich naiv, und die diskursiven Streifzüge entfernen sich zusehends von der lebendigen Literatur hin zum rein Spekulativen.
Die emotionale und gedankliche Aufladung des Romans ist mittlerweile so gewaltig, dass der Übersetzer immer wieder um eine frische und unbefangene Sicht auf den Text ringen musste. Er kennt das Buch und die Gespräche darüber seit seiner Jugend und damit auch so etwas wie eine allgemein etablierte, gleichsam in der Luft liegende Lesart. Die wesentlich intensivere Lektüre während der Arbeit an der vorliegenden Übertragung hat dieses Bild stark differenziert. Vieles von dem, was in Bulgakows Buch normalerweise gesehen wird, erschien ihm dabei als ein Produkt der kollektiven Über-Interpretation.
So die populäre Bewertung der beiden Namenspatrone des Romans – des Meisters und seiner Margarita. Sie könnten sich inzwischen mühelos in das Pantheon der großen Liebespaare einfügen lassen. Sie werden romantisch verklärt und mit überirdischen Zügen ausgestattet. Ihre Beziehung gilt als tragisch und erfüllt zugleich.
Margarita – das Ideal einer Liebenden?
Aber entbrennt die Liebe zwischen dem Meister und Margarita nicht vor allem auch deshalb, weil Margarita – eine junge verwöhnte und gelangweilte Ehefrau – sich etwas Abwechslung gönnen will? Und denkt sie drei Monate nach des Meisters Verschwinden nicht in eine ganzähnliche Richtung, wenn sie sich im Alexandergarten sagt: »Na bitte! Warum habe ich, zum Beispiel, den Herrn da verjagt? Ich suche Zerstreuung, und dieser Flaneur ist nicht übel. […] Was brüte ich hier einsam, wie eine Eule? Weshalb bin ich vom Leben ausgeschlossen?« In Bulgakows Text ist sie sehr viel gewöhnlicher und handfester, als es manch einer wahrhaben mag.
Ihre Überlegungen sind häufig praktischer Natur: Dass Azazellos Döschen aus Gold gemacht ist, erkennt sie zum Beispiel am Gewicht. Als sie den dunklen Ballsaal betritt, fragt sie sich unromantisch und nüchtern, ob dem Hausherrn etwa der Strom ausgegangen sei. Ihre Reden sind oft banal gehalten, um nicht zu sagen: trivial, und nach der Verwandlung in eine Hexe stellenweise sogar vulgär, sodass die Verwandlung selbst nur ihre latenten Wesenszüge zu verstärken und nach außen zu stülpen scheint.
Bedenkenswert ist auch Margaritas legendäre Opferbereitschaft: Wirkt ihre Weigerung, auf Azazellos »unmoralisches Angebot« einzugehen, nicht letztendlich etwas aufgesetzt theatralisch? Und schwingt bei der schließlichen Einwilligung nicht auch ein Hauch von Neugier und Abenteuerlust mit? Sogar in der Frieda-Episode ist das Motiv ihres Handelns keinesfalls eindeutig: Vielleicht ist es tatsächlich Mitleid, doch, bezogen auf die Situation, wäre die plausiblere Erklärung eigentlich verletzter Stolz oder, wie sie selbst sagt, Angst vor Peinlichkeit.
Der Meister – das Ideal eines Dissidenten?
Ähnlich ambivalent ist die Gestalt des Meisters, der in der populären Sichtweise als Prototyp eines dissidenten Autors gilt. Aber passt diese Rolle wirklich zu ihm? – Zunächst erstaunt es, wie unpolitisch der Meister insgesamt denkt und handelt. Auch er ist finanziell abgesichert und lebt in idyllischer Isolation, unbehelligt von den Querelen des Alltags. Er ist gar kein Systemkritiker, und die Phase der Arbeit an seinem Roman hat nichts mit irgendwelchen inneren oder äußeren Krisen zu tun – er selbst bezeichnet sie im Gegenteil als »das Goldene Zeitalter«. Er hat keine schriftstellerischen Ambitionen, betrachtet sich nicht einmal als Autor. Im Grunde schreibt er das Buch für sich und wird erst von Margarita, die ihm Ruhm verheißt, dazu gedrängt, es zu veröffentlichen, weshalb er unter die Räder der sowjetischen Literaturbürokratie gerät. Es bleibt einigermaßen schleierhaft, warum er sich auf diesesSpiel einlässt und was er damit bezwecken will. Ist er am Ende womöglich gar ein Opfer von Margaritas Eitelkeit?
»Pontius Pilatus« – ein verbotenes Buch?
Bleibt noch sein Roman »Pontius Pilatus«. Ist nicht wenigstens dieser ein gefährliches politisches und religiöses Werk? – Was den Meister anbelangt, so scheint es ihm jedenfalls überhaupt nicht um irgendwelche Provokationen zu gehen. Er kann die Polemik gegen das Buch beim besten Willen nicht begreifen. Natürlich wird Jesus als Person in der sowjetischen Literatur ungern gesehen. Aber das hier gebotene Bild, das Bild eines gutherzigen Narren, eines Tolstoi-Jüngers, ist nicht unbedingt schmeichelhaft. Und was
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