Meister und Margarita
Restaurant des Gribojedow eingetroffen, schlägt er plötzlich den Ton eines russischen »Narren in Christo« an, der umso grotesker wirkt, je mehr er spontan zwischen offiziösem Sowjetpathos und biblischen Versatzstücken changiert (»Ihr Brüder dem Schreiben nach! […] Höret, ihr alle! Er ist erschienen!«). Die zur Hexe gewordene Margarita redet stellenweise schnodderig vulgär, stellenweise entrückt poetisch, als käme sie aus einer anderen Welt: »Ja, Fäden, Fäden … Vor mir bedeckt sich dein Kopf mit Schnee … Ach, mein armer, gequälter Kopf! Da schau – deine Augen! Darin ist Wüste … Und die Schultern, die Schultern – schwer drückende Last … Zerschunden, zerschunden …«
Die Initiation des Helden
Um aber die innere Entwicklung Iwan Besdomnys im Verlauf des Romans darzustellen, greift Bulgakow, neben dieser sprachlichen Ebene, noch auf zwei weitere zurück – auf die Ebenen der Märchens und der Freimaurerei.
Das märchenhafte Element tritt zutage, wenn der Dichter auf einmal nicht mehr »Iwan Besdomny«, sondern nur noch »Iwan« genannt wird. Iwan ist der Hauptakteur der russischen Volksmärchen, wo er auch den Kosenamen »Iwanuschka« trägt. Bei Bulgakow wird aus »Iwan Besdomny« erst »Iwan« und schließlich sogar »Iwanuschka« (in der vorliegenden Übersetzung liebevoll als »unser Iwan« angedeutet). Somit ist er der Märchenheld, der sich auf die Reise ins Zauberreich begibt. Signifikant wird in diesem Zusammenhang die Stelle, wo es von Iwan im Krankenhaus heißt: »Drei Wege standen ihm frei«: Dies ist die typische Situation des Märchenhelden.
Wie einst Leo Tolstoi in »Krieg und Frieden«, schöpft auch Bulgakow in seinem Roman aus der Bilderwelt der Freimaurerei, und zwar nicht ohne parodistische Züge. Mit der »Königlichen Kunst« ist er gut vertraut, unter anderem aus der Publikation »Die zeitgenössische Freimaurerei« ( Sovremennoe frankmasonstvo, Kiew 1903) seines Vaters Afanassij Iwanowitsch Bulgakow, eines Privatdozenten der Kiewer Theologischen Akademie.
Als die älteste noch erhaltene abendländische Einweihungstradition erhebt die Freimaurerei den Anspruch, einen Menschen mithilfe überlieferter Symbole und Rituale stufenweise zu veredeln. Er begegnet der Loge im Zustand des »Suchenden«, wird bei seiner Aufnahme zum »Lehrling«, im nächsten Schritt zum »Gesellen« befördert und endlich in den Grad des »Meisters« erhoben.
Diesen Prozess durchlebt Iwan Besdomny von den ersten bis zu den letzten Seiten des Romans. Allenthalben finden sich Anspielungen auf die freimaurerischen Bräuche, überlagert von Mythen und dämonisierendem Volksaberglauben. Gleich im ersten Kapitel zeigt Woland den beiden Schriftstellern sein Zigarettenetui mit dem diamantenen Dreieck, welches ein markantes Freimaurersymbol ist. Die anschließende Erwähnung des abgetrennten Kopfes verweist bereits auf das Zeichen des Lehrlings mit der Bedeutung: »Lieber lasse ich mir den Kopf abschlagen, als auch nur eines der mir anvertrauten Geheimnisse zu verraten.«(Später soll auch dem Conférencier Bengalski der Kopf abgerissen werden.) Nach seiner wilden Verfolgungsjagd und dem reinigenden Bad in der Moskwa verliert Besdomny all seine Kleider – eine weitere Persiflage auf das freimaurerische Aufnahmeritual, wobei die Rolle der Degenspitze an der Brust des Suchenden ironischerweise die Nadel übernimmt, mit der die Papierikone befestigt ist. Die Einweihungszeremonie wird in der Klinik fortgesetzt. Hier muss der Kandidat Fragen beantworten, er wird durch unbekannte Gänge geführt, man piekst ihn in den Rücken, mit dem Griff eines Hammers zeichnet man geheimnisvolle Figuren auf seine Brust, klopft ihn ab und entnimmt seinem Zeigefinger Blut.
Am Ende dieser Prozedur steht für Besdomny eine mystische Erfahrung: das prozesshafte Absterben des »alten Menschen« und die Geburt des »neuen Menschen«. Der paulinische »Alte« beziehungsweise »Neue Adam« erscheint (sogar vom Klangbild her ähnlich) in der Gestalt des »Alten« und »Neuen Iwan«. Was für den Chefarzt, rein empirisch betrachtet, nichts anderes als Schizophrenie ist, entspricht in Wahrheit dem klassischen initiatischen Erlebnis.
Auch die sogenannte »Erhebung« – die Wiederaufrichtung eines rituell Gestorbenen – kommt verschleiert im Roman vor, diesmal mit dem Meister als Kandidaten. Den Tod symbolisiert hier offenbar das »Haus der Trübsal« – die psychiatrische Klinik. Dieser Sphäre wird er entrissen, was ihn
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