Meister und Margarita
überkreuzte Schemen: Der eine etwas satter und dunkler, der andere etwas schwächer und grauer. Ganz deutlich waren die Umrisse der Lehne und der spitzen Beinchen zu sehen. Doch über der Lehne fehlte die Silhouette von Warenuchas Kopf so wie unter den Beinchen die seiner Füße.
»Er wirft keinen Schatten!«, schrie der Finanzdirektor verzweifelt in Gedanken auf. Ein Zittern befiel ihn.
Der andere, den rasenden Blicken folgend, wandte sich ertappt um, sah hinter die Lehne und wusste Bescheid.
Dann erhob er sich. Ebenso Rimski, der vom Tisch zurückwich und mit beiden Händen seinen Aktenkoffer packte.
– Tja, erwischt! Alter Schlauberger! –, sagte Warenucha mit fiesem Grinsen dem Finanzdirektor mitten ins Gesicht. Tatplötzlich einen Satz vom Sessel zur Tür. Schob schnell den Hebel des englischen Schlosses nach unten. – Rimski schaute entgeistert um sich und taumelte in Richtung des Gartenfensters. Und in diesem vom Mond überfluteten Fenster erkannte er die Fratze eines nackten Weibes, direkt gegen die Scheibe gepresst, und einen ebenso nackten Arm, der durch die Lüftungsklappe hereinglitt, bemüht, den unteren Riegel zu lösen (der obere war bereits geöffnet).
Das Licht der Lampe verfinsterte sich. Der Schreibtisch kippte. Eine eiskalte Welle erfasste Rimski. Aber mit viel Willenskraft gelang es ihm zum Glück, den Halt zu wahren. Seine restlichen Kräfte reichten aus, um zu flüstern (aber nicht zu schreien):
– Hilfe …
Warenucha bewachte die Tür und hüpfte, wobei er für lange Zeit in der Luft hängen blieb und hin und her wippte. Seine krummen Finger schnappten nach Rimski, er zischte, schmatzte, zwinkerte der Person im Fenster zu.
Diese aber beeilte sich. Steckte den fuchsroten Kopf durch die Lüftungsklappe. Machte den Arm lang, so weit es nur ging. Begann mit den Nägeln am unteren Hebel zu kratzen und arg am Rahmen zu rütteln. Ihr Arm verformte sich gummiartig. War plötzlich von Moder befallen. Schließlich umklammerten die grünen Finger der Toten den Griff des Hebels. Betätigten ihn, bis der Rahmen nachgab. Rimski schrie leise auf und hob, gegen die Wand gestemmt, den Aktenkoffer als schützenden Schild. Denn jetzt nahte sein Untergang.
Der Fensterflügel flog weit auf, doch statt der nächtlichen Frische und des Lindenaromas fuhr ein Kellergeruch ins Zimmer. Die Leiche betrat nun das Fensterbrett. Rimski konnte in aller Deutlichkeit die Verwesungspuren auf ihrer Brust sehen.
Da erklang plötzlich vom Garten her, aus dem niedrigen Trakt hinter der Schießbude, in dem Vögel für verschiedene Darbietungen gehalten worden waren, ein heiteres Hahnenkrähen. Der singfrohe dressierte Gockel trompetete, dass es ganz fern, im Osten von Moskau bereits schwach dämmerte.
Wilder Zorn durchzuckte das Gesicht des Weibes. Sie stieß ein heiseres Schimpfwort aus, während Warenucha an der Tür aufkreischte und mitten aus der Luft zu Boden sackte.
Und abermals krähte der Hahn. Die Frau biss krachend die Zähne zusammen, ihre fuchsroten Strähnen stiegen zu Berge. Beim dritten Schrei wandte sie sich um und schwirrte hinaus. Und nach ihr tat einen Sprung in die Höhe und segelte – langsam – wie ein fliegender Cupido – schnurgrade über den Schreibtisch hinweg – und durchs Fenster ins Freie – Warenucha.
Schneeweiß – ohne ein schwarzes Haar – stürzte der Greis – soeben noch Rimski – zur Tür, entriegelte sie und rannte in den finsteren Flur. An der Treppe – wimmernd vor Angst – ertastete seine Hand den Schalter, und Licht strahlte auf. An einer Stufe stolperte er – der zitternde Alte – und fiel hin. (War es Warenucha, der aus der Luft watteweich auf ihn herabsank?)
Unten angelangt, bemerkte er einen Wächter: Dieser saß an der Kasse in der Eingangshalle, in Schlaf gefallen. Rimski schlich auf den Zehenspitzen an ihm vorbei und dann nach außen durch das Haupttor. Auf der Straße wurde ihm leichter ums Herz. So völlig hatte er seine Ruhe wieder, dass ein Griff an den Kopf ihn feststellen ließ: Sein Hut war oben im Büro geblieben.
Es versteht sich von selbst, dass er nicht zurückkehrte, um diesen zu holen. Vielmehr außer Atem über die Straße flitzte. Zum Kino an der Ecke, wo ganz schwach ein rötliches Flämmchen flimmerte. Kurz darauf war er dort. Und da stand das Taxi. Ein Glück, von niemandem weggeschnappt!
– Zum Schnellzug nach Leningrad. Gutes Trinkgeld –, keuchte der Greis und fasste sich ans Herz.
– Ich hab Feierabend –, sagte der Chauffeur
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