Melina und die vergessene Magie
an.
»Sollen wir den Tiegel zu euch bringen?«, fragte Erel.
Die Hexe beugte sich über die leeren Becher und ließ sie verschwinden. Eher beiläufig fragte sie: »Willst du ihn nicht behalten?«
Erel schwieg eine Weile, und Melina fürchtete schon, dass Selyke sein Zögern missdeuten könnte.
»Auf diesen Gedanken würde ich nie kommen«, erwiderte er erstaunt. »Was sollte ich mit so viel Verantwortung?«
Selyke lächelte zufrieden. »Du nennst es Verantwortung … eine gute Antwort.« Sie ging voraus zum Höhlengang. Ohne sich umzuwenden, sprach sie weiter. »Ihr solltet euch sofort auf die Reise machen. Ein paar der jüngeren Xix werden nicht verstehen, dass ich euch das Versteck des Tiegels verraten habe. Natürlich kann ich euch in meinem eigenen Reich schützen. Aber es wird auf Dauer anstrengend, und mir wäre es lieber, der Frieden kehrte wieder in unser Dorf zurück.«
Melina starrte auf ihren krummen Rücken, während sie ihr folgte. Wenn das kein eindeutiger Rauswurf war!
»Außerdem wird Rusella nicht besonders erfreut sein, wenn sie hört, dass ich euch ihre Pferde zur Verfügung stelle.«
»O danke, nicht nötig«, erwiderte Tann prompt.
Melina stieß ihn in die Seite. »Das ist sehr großzügig von dir«, sagte sie laut. Und leise zu Tann: »Was soll das?«
Tann sah sie mit großen Augen an und formte lautlos mit den Lippen das Wort »Pferde«.
»Oh«, nickte sie. »Gefährliche Tiere! Ich hab’s vergessen.«
Sie grinste – obwohl eine unbewusste Ahnung ihr sagte, dass Lamunees Pferde ganz anders waren als die in ihrer Welt.
Rusellas Pferde
Als Selyke mit Rusella sprach, verdüsterte sich das Gesicht der jüngeren Hexe, und die Blicke, die sie Melina, Tann und Erel zuwarf, hätten Pflanzen verdorren lassen können. Schließlich wandte Selyke sich zu ihnen um. »Gute Reise! Wenn ihr die Pferde nicht mehr braucht, schickt sie zu uns zurück. Wenn nicht, wird Rusella sich darum kümmern, aber an eurer Stelle würde ich es nicht so weit kommen lassen.« Ein dünnes Lächeln umspielte Selykes Lippen. »Ich weiß natürlich, dass ihr mich nicht hintergehen werdet.«
Melina war nicht sicher, ob das eine Freundschaftsbekundung sein sollte – oder eine Warnung. Selyke wandte sich ab und verschwand in ihrer Höhle.
Rusella hob mürrisch die Arme gegen den Himmel und gab dabei unangenehm hohe Töne von sich, die ähnlich klangen wie Selykes Kreischen vorhin. Melina konnte allerdings nicht gleich erkennen, was der Zauber bewirken sollte. Es wurde plötzlich kälter – und dunkler. Schwarze Gewitterwolken näherten sich und türmten sich über ihnen auf, und Melina fiel ein, dass sie nur ein dünnes Leinenkleid trug. Kein guter Zeitpunkt für ein Unwetter. Doch es regnete nicht. Stattdessen lösten sich vier kleinere Wolken aus der großen heraus, und mit dem Gebrüll starken Windes schwebten sie ihnen entgegen. Dabei nahmen sie Gestalt an: vier Beine, ein langer, gebogener Hals und ein flatternder grauer Schweif. Melina sprang einen Schritt zurück, als eines der Ungetüme direkt vor ihr landete. Es war etwa doppelt so groß wie die Pferde, auf denen sie bisher gesessen hatte. Und ein wenig klobig, als hätte ein Riesenkind einen Klumpen Ton genommen und versucht, mit seinen groben Händen ein Pferd zu kneten. Doch das Tier bestand nicht aus Ton, nicht einmal aus einem festen Material: Grau-schwarz ineinanderquirlende Gewitterwolken bildeten vorübergehend die Form eines Pferdes.
»Was ist das?«, fragte Melina mit dünner Stimme.
»Ich habe dich vor diesen Tieren gewarnt«, sagte Tann. »Verstehst du jetzt warum?«
Erel legte ihr eine Hand auf den Arm. »Keine Angst. Rusella kann mit ihnen umgehen.«
Die Hexe wandte den Kopf, sodass ihr silberfarbenes Haar im Wind flatterte. »Allerdings. Aber ich werde euch nur bis zum Spiegelteich begleiten. Um die Pferde zu lenken, müsst ihr ihnen eine Hand auf den Hals legen. Ganz sanft! Auf keinen Fall drücken! Und fliegt
auf gar keinen Fall
in die Gewitterwolke!«
»Was müssen wir tun, damit sie schneller oder langsamer werden?«, fragte Erel.
»Darüber entscheiden die Pferde«, lächelte Rusella, und es war kein freundliches Lächeln. »Geht klug mit ihnen um und lasst sie immer viel trinken. Wenn ihr sie nicht mehr braucht, dann steigt ab und deutet mit ausgestrecktem Arm auf die Wolken, und sie werden zu uns zurückkehren.«
Melina war sofort klar, dass diese Pferde mit denen aus ihrem alten Reitstall so gar nichts gemeinsam hatten, und
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