Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Nacht will er sie, nicht bloß als Geliebte, sondern wie ein Kind seine Mutter, um ihn zu beruhigen, seine Alpträume zu vertreiben und ihm zu sagen, daß alles gut werden wird. Er fühlt, daß nichts und niemand sonst ihm Trost spenden kann.
Mit den langsamen Bewegungen eines alten Mannes nimmt er eine Lampe und macht sich auf den Weg zu Kirstens Gemächern. In dem kleinen Raum vor ihrem Schlafzimmer bleibt er stehen, weil er sieht, daß quer vor ihre Tür ein Bett gestellt worden ist, auf dem die junge Frau Emilia schläft. Erstaunt blickt er darauf und auf das schlafende Mädchen. Warum ist das Bett vor die Tür geschoben worden?
In der Hand die Lampe, steht er still da. Emilia wacht auf und beginnt beim Anblick seiner riesigen Gestalt, die sich über ihr abzeichnet, erschreckt zu keuchen. Dann hört Christian Kirsten nach ihr rufen, und Emilia stellt sich vor der Tür auf das Bett und versperrt ihm den Weg.
»Sir …«, stammelt sie.
Er sagt noch immer nichts. Ein Teil von ihm scheint nach wie vor in dem Traum von Bror befangen zu sein und ist nicht in der Lage – wegen dem, was er sah, als Bror Brorson sein Leben verlor –, etwas zu sagen.
Kirsten ruft wieder, und Emilia, deren Füße noch in den Bett-tüchern verheddert sind, macht einen unbeholfenen Knicks vor ihm, öffnet die Tür zu Kirstens Kammer und tritt ein. Sie schließt die Tür hinter sich. Christian hört seine Frau mit erhobener Stimme sprechen, und nun weiß er, warum das Bett an dieser Stelle steht. Emilia ist angewiesen worden, ihm den Weg zu Kirsten zu versperren.
Er stellt die Lampe ab, bückt sich und hebt Emilias Bett mit einer einzigen kräftigen Handbewegung beiseite. Dann öffnet sich die Tür, und Emilia steht in ihrem Nachthemd da und murmelt nervös etwas von der »Zartheit« und dem »melancholischen Zustand« ihrer Herrin. Der König erklärt ihr, er wolle nichts mehr hören, und will sich an ihr vorbeischieben. Da sagt sie mit einem Ausdruck des Entsetzens im Gesicht: »Ihr dürft nicht hinein, Sir! Mir ist befohlen worden zu sagen, daß niemand hineindarf.«
Er sieht sie fassungslos an. Sie ist auf eine schlichte Art, die ihn an Anna Katharina erinnert, schön, und er will sie nicht verletzen. Doch nun kommt ihm der Gedanke, daß dieser Augenblick in dieser Nacht, in der die Bilder von Brors Tod wie eine Wunde in seinem Hirn sind, der allerletzte Augenblick ist, in dem er Kirsten noch verzeihen kann.
Etwas von dieser Entschlossenheit und Gefühlsintensität überträgt sich auf Emilia. Sie blickt ihm ins gequälte Gesicht, in seine Augen, die Kriege, Piraterie, Ertrinken und den Tod von Kindern und lieben Freunden gesehen haben. »Sir«, fleht sie, »ich bitte Euch …«
»Nein!« sagt Christian.
Und nun geht er an Emilia vorbei in Kirstens Schlafzimmer, schließt die Tür hinter sich und dreht den Schlüssel um.
Kirsten sieht entsetzt aus, als sei er gekommen, um sie zu töten.
Sie schreit und zerrt die Bettücher über ihren schwangeren Bauch. Ihr krauses Haar ist wild zerzaust, ihr Gesicht weiß, und ihr Mund steht weit offen.
Christian versucht sie zu beruhigen. Er nennt sie seine »geliebte Maus«, doch sie scheint das nicht zu hören. Er greift nach ihrer Hand und küßt sie, doch sie reißt sie zurück. Ihre Schreie flauen ab und gehen in Betteln über. »Schlag mich nicht …«, fleht sie. »Bitte …« Ihr steht Schweiß auf der Stirn. Sie sagt, sie werde schreien, bis die Palastwachen angerannt kommen, bis alle auf Rosenborg wach sind, doch er versucht noch immer, sie zu beruhigen, wischt ihr die Feuchtigkeit aus dem Gesicht und streicht ihr Haar glatt. »Ich bin dein Mann«, sagt er. »Und du mußt mich heute nacht trösten.«
»Nein!« schreit sie. »Ich wecke die Konditoren auf! Ich wecke die Stallburschen auf! Ich wecke ganz Dänemark auf!«
»Pst!« sagt er. »Beherrsch dich, Kirsten! Ich bin gekommen, um dich zu lieben, das ist alles.«
Doch nun scheint sich ihr Entsetzen in etwas anderes zu verwandeln, in einen so wilden Zorn, daß ihr die haselnußbraunen Augen aus dem Gesicht treten wie giftige Blasen. »Du weißt, daß es zwischen uns keine Liebe gibt!« schreit sie gellend. »Warum beharrst du darauf? Warum läßt du mich nicht in Frieden?«
»Weil ich es nicht kann«, antwortet Christian. »Weil ich eine Frau haben muß, die eine Frau ist, und wenn du mich nicht in dein Bett läßt …«
»Drohst du mir? Wie kannst du es wagen, dich mir aufzuzwingen, wenn ich mich nicht wohl fühle! Du
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